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Befreien von aller Unterdrückung

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Weiter umstritten ist die Theologie der Befreiung. Neuester Anlaß: kritische Äußerungen von Kardinal Josef Ratzinger. Im folgenden werden die Anliegen der Befreiungstheologen kurz skizziert.

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Weiter umstritten ist die Theologie der Befreiung. Neuester Anlaß: kritische Äußerungen von Kardinal Josef Ratzinger. Im folgenden werden die Anliegen der Befreiungstheologen kurz skizziert.

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Seit mehr als einem Jahrzehnt prägt die Theologie der Befreiung das Denken, Handeln und vor allem das Glauben eines wachsenden Teils der lateinamerikanischen Kirche. Was sind nun die Hauptanliegen der Befreiungstheologen? Wovon soll der Mensch eigentlich befreit werden?

Bischof Ivo Lorscheiter, Präsident der brasilianischen Bischof skonferenz, formuliert es so: „Es geht um Befreiung von allem, was unterdrückt und knechtet: von der Sünde, der Unwissenheit, der Krankheit, dem materiellen Elend, politischer Unterdrük-kung, internationaler Abhängigkeit."

Erlösung wird als Befreiung im weitesten Sinn verstanden. Sie soll dem Menschen nicht nur im fernen Jenseits zuteil werden. Erlösung beginnt hier und jetzt und ist ein ganzheitliches Geschehen, das den Menschen in all seinen Lebensbezügen erfassen muß. Das Evangelium als frohe Botschaft für das Diesseits ist auch ein Aufruf zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit.

Was diesem Anliegen entgegensteht, wird als „kollektive Sünde" bezeichnet (siehe dazu die Gedanken Karl Rahners). Damit wird bewußt eine Gegenposition zur weitverbreiteten „Rette Deine Seele"-Mentalität bezogen. Wer sich nur auf persönliche Tugenden konzentriert, sich vorwiegend als Konsument von Sakramenten versteht, seine Verantwortung für die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten jedoch ausblendet, entspricht nicht dem christlichen Leitbild der Befreiungstheologen.

Sie sind nämlich stark von den augenscheinlichen Mißständen in den meisten lateinamerikanischen Ländern betroffen und rufen daher zu zweierlei auf:

• zum Aufbau einer neuen, vom

Geist Christi geprägten Ordnung und

• zur radikalen Verurteilung der kapitalistischen Auswüchse der heute in Lateinamerika herrschenden Verhältnisse.

Zum Aufbau dieser rteuen Ordnung sind alle aufgerufen. Daher wird die Bedeutung der Laien besonders betont. Damit wird nichts Neues gesagt, sondern eine Kernaussage der christlichen Botschaft in den Vordergrund gestellt: Christus ruft alle in seine Nachfolge, alle sind Tempel Gottes, alle sind in der Taufe zu Priestern und Propheten gesalbt. Alle sind daher für die Kirche verantwortlich.

Dieser Aufruf ergeht jedoch nicht nur an den einzelnen. Die Theologie der Befreiung kann auch als Mahnerin gegen die Individualisierung in der Kirche angesehen werden. Sie ruft zur Gemeinschaftsbildung auf. Und dieser Ruf wird heute durchaus vernommen: In nahezu allen Ländern des Subkontinents entstehen Basisgemeinden, lebendige christliche Gemeinschaften. Ihre Mitglieder lesen gemeinsam die Schrift, fühlen sich füreinander und das Wohl ihrer Mitmenschen verantwortlich.

Im Verständnis davon, was Kirche ist, wird das Bild vom pilgernden Volk Gottes (wie auch vom Zweiten Vaticanum) stark betont. Was die kirchliche Organisation anbelangt, wird vor allem auf Uberschaubarkeit und Personalität Wert gelegt. Auch Jesus habe sich primär um den Geist seiner Jünger, um ihre erfüllte Beziehung zum Vater bemüht und nicht um institutionelle Aspekte der Kirche.

Damit ist keineswegs eine Abschaffung der kirchlichen Ämter angestrebt. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff meint aber, daß es um ein neues Verständnis ginge: „Kollegialität darf kein Kennzeichen allein des Episkopats und der Priesterschaft bleiben. Sie betrifft das ganze Volk Gottes."

Aus dem bisher Gesagten wird schon ersichtlich, daß die Befreiungstheologen auch für das Aufbrechen der vielfach vorherrschenden Trennung von religiöskultischem Bereich und Alltagsleben eintreten. Das menschliche Leben muß als Einheit gesehen werden. Damit wird eine Gegenposition zu jener Haltung bezogen, die Heiligkeit mit Pflichterfüllung und Einhaltung von kirchlichen Vorschriften gleichsetzt.

Gehorsam, Unterwerfung und Ganzhingabe an die Organisation sind dann Kriterien, für deren Erfüllung Belohnung im Jenseits winkt. Gegen die mit dieser Sicht einhergehende Passivität des Menschen treten die Befreiungstheologen auf. Sie weisen darauf hin, daß dieses Modell die Hierarchie dazu verleiten kann, sich nur mehr als Wächter der Ordnung zu verstehen und in Machtkategorien zu denken.

Dann könne es geschehen, daß innerhalb der Kirche sich ähnliches ergibt wie in der Gesellschaft: Der Klasse der Mächtigen steht die der Machtlosen gegenüber. Genau das widerspreche aber dem Wesen der Kirche.

Der eben verwendete Begriff Klasse weist schon auf ein Grundproblem in der Auseinandersetzung um die Befreiungstheölogie hin: Marxistische Begriffe werden bei der Darstellung der gesellschaftlichen Situation Lateinamerikas verwendet. Das ist insofern verständlich, als der Subkontinent vielfach heute noch dem Wirken eines hemmungslosen Kapitalismus ausgesetzt ist, zu dessen Uberwindung auch im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Marxismus einiges beigetragen hat.

Deswegen verstehen sich die Theologen aber in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht als Marxisten. Gustavo Gutierrez, ein derzeit heftig umstrittener Vertreter der Richtung, sieht den Stellenwert des Marxismus folgendermaßen: Ihm sei es „zum großen Teil zu verdanken, daß das theologische Denken im Rückgriff auf seine eigenen Quellen sich auf die Frage nach dem Sinn der Umgestaltung der Welt und der Tätigkeit des Menschen in der Geschichte besinnt."

Zweifellos enthält die Verwendung marxistischer Begriffe die Gefahr, daß aus Theologie Ideologie wird. Dies außer acht zu lassen wäre falsch. Allerdings gilt dieser Vorwurf jeder theologischen Deutung. Vielleicht sollten gerade wir Europäer in dieser Hinsicht sensibler werden: Wieviel Ideologie ist in unser Denken eingeflossen durch die Übernahme aristotelischer, juristischer, liberal-ökonomischer Begriffe?

Bedenklich wird die Übernahme von marxistischen Begriffen dann, wenn aus den Sozialwissenschaften „Gesetzmäßigkeiten" übernommen werden: Der gesetzmäßige Ablauf der Geschichte hin zur klassenlosen Gesellschaft, der Klassenkampf, die Notwendigkeit zwischen derzeit angebotenen Gesellschaftsmodellen zu optieren ...

Glücklicherweise erweisen sich die lateinamerikanischen Theologen doch als weitaus weniger ideologisch festgelegt als Europäer vermuten. In einer Antwort auf die Kritik von Kardinal Ratzinger stellen die beiden Brasilianer Leonardo und Clodovis Boff fest, daß es der Befreiungstheologie um die Uberwindung des Marxismus im Sinn einer Aufhebung gehe. Sicher gäbe es vereinzelt Übertreibungen. Sie seien aber nicht die Grundlinie der neuen Strömung.

Jedenfalls wolle man sich ernsthaft mit der Kritik des Kardinals auseinandersetzen, um eigene „hinkende, wenig glückliche" Ausformulierungen zu beseitigen, aber auch um Einseitigkeiten in den gemachten Vorwürfen aufzuklären.

Eigentlich ein guter Ansatz zu einer hoffentlich fruchtbaren Diskussion.

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