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Befreite Prosa

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Der Chefredakteur der sowjetischen Zeitschrift „Druschba Narodow" (Auflage über zwei Millionen) berichtet über die Umgestaltung des literarischen Lebens in der UdSSR.

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Der Chefredakteur der sowjetischen Zeitschrift „Druschba Narodow" (Auflage über zwei Millionen) berichtet über die Umgestaltung des literarischen Lebens in der UdSSR.

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Die sowjetische Literatur befindet sich augenblicklich in einer Situation der Veränderung und des Umbruchs; sie ist kompliziert und es ist schwer vorauszusagen, wie sich der Prozeß weiter entwickeln wird. Die Lage ist außerordentlich interessant und kann von verschiedenen Seiten betrachtet werden.

Man kann beobachten, wie sich das Verhältnis zwischen den Generationen umgekehrt hat: eine stürmische „zweite Jugend" bei alten Schriftstellern (zum Beispiel bei Dudinzew), eine gewisse Verunsicherung bei den Jungen. Man entdeckt eine für die russische Literatur ungewohnte Verschiebung zwischen den literarischen Gattungen: eine Schwäche und Farblosigkeit der Lyrik (die in Zeiten des Wandels und der Erneuerung immer die Rolle des Schrittmachers gespielt hat) im Vergleich zu einem ungeheuren Übergewicht der Publizistik ( die bisher immer als rückschrittlich und hinter der Entwicklung nachhinkend gegolten hat), dazu den Niedergang des epischen Elements in der Prosa (die Epik hatte immer den ersten Platz inne).

Man kann schließlich auch über die neue, ungewohnte Gegenüberstellung von Tatsachen und Phantasie nachdenken, nämlich über das große Interesse für dokumentarisch belegte Fakten, für „Archive" und „Augenzeugenberichte", während das Interesse für Belletristik und Fiktion in auffallender Weise zurückgegangen ist.

Wenn wir uns auf das Gebiet der Prosa beschränken und untersuchen, was jetzt geschrieben und was gelesen wird, so kann man auch hier eine außergewöhnliche Situation beobachten, die in anderen nationalen Kulturen selten anzutreffen ist: eine Gegenüberstellung, ja ein Konkürrenzverhältnis zwischen verbotenen und nicht verbotenen Texten, das heißt von Werken, die „aus der Gefangenschaft befreit" wurden und Büchern, die jetzt geschrieben werden.

Das wichtigste Element der literarischen Erneuerung, nicht nur von Werken in russischer Sprache, ist der Prozeß des Hineinwachsens von„zurückgekehrten" Texten in die gegenwärtige Literatur (oder das Hineinwachsen des Heutigen in die zurückgekehrte, wiedererstandene Tradition). Er wird ergänzt von einer Neubewertung der Beziehungen zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen innerhalb der sowjetischen Literatur, inklusive der russischen. Und während diese nationale „Umverteilung der Einflußsphären" erst im Entstehen begriffen ist, hat sich die Beziehung zur „rehabilitierten Vergangenheit" schon klar definiert und bestimmt die augenblickliche Situation.Zurückgekehrt sind Texte aus den zwanziger- und dreißiger Jahren, aus der Vorkriegszeit. Es wurden Romane und Erzählungen von Samjatin, Sasubrin, Bul-gakow, Pilnjak, Platonow veröffentlicht, die bisher verboten und verborgen waren.

Zurückgekehrt sind auch Texte aus einer verhältnismäßig jungen Vergangenheit, der Nachkriegsära: aus den vierziger-, fünfziger-, sechziger- und sogar siebziger Jahren: Pasternak, Dombrowskij, Groß-man, Wojnovitsch, Bitow, Bek. Auch Solschenizyn kehrt zurück.

Zurückgekehrt sind nicht nur daheimgebliebene Autoren, sondern auch russische Schriftsteller, die ihre Werke in der Emigration verfaßt haben: Nabokow, Aldanow, Njekrasow.

Die gesamte Zeit der sowjetischen Herrschaft erscheint in einem neuen Licht; alle Reputationen werden neu gewogen; alle Werte werden „von Null auf" neu überprüft: vom Standpunkt der Menschlichkeit.

In dieser Situation wird die moderne Prosa, die noch gestern den Ton angab, mit der Tatsache konfrontiert, daß sie mit völlig neuen Gegebenheiten, manchmal sogar mit „Gespenstern", in Konkurrenz treten muß. Das Kräfteverhältnis verändert sich: Below und Rasputin stehen plötzlich nicht mehr an jenem „Ende" der Literaturskala, das sie innehatten; Pri-stawkin schiebt sich an die äußerste Flanke der radikalen Ideen; eine Polarisierung der Kräfte findet statt; das Zentrum entleert sich, die Standfestigkeit geht verloren, die Tradition wird zur Waffe sowohl des Angriffs, als auch der Verteidigung.

Bloß auf den Seiten der Zeitschrift „Druschba narodow" (Freundschaft der Völker) können alle diese Prozesse und Tendenzen genau verfolgt werden.

„Druschba narodow" veröffentlichte Erzählungen und Romane, die aus dem Dunkel der Archive hervorgeholt und für das lesende Rußland zum Ereignis wurden: „Tschewengur" von Andrej Platonow, „Mahagoni" von Boris Pilnjak, Erzählungen von Warlam Scha-lamow. Die Zeitschrift hat Ryba-kovs „Kinderdes Arbat" veröffentlicht, ferner Erzählungen von Wladimir Tendrjakow, Wiktor Nekra-sow, Wladimir Wojnovitsch. Gegenwärtig erscheint „Die Dekade" von Semen Lipkin, literarische Skizzen von Boris Jampolskij, Alexander Beks Roman „Am nächsten Tag".

„Druschba narodow" hat aus den unter Verschluß gehaltenen Büchermagazinen den „Schlüssel" von Mark Aldanow, „Andere Ufer" von Wladimir Nabokow, „Die Dame aus Eisen" von Nina Berberowa herausgeholt. Solschenizyn wird vielfach gedruckt, seine frühen Schriften ebenso wie das, was aus dem Ausland kommt - das „schwerste Kaliber" der russischen Literatur.

Wie antworten ihm die heutigen Schriftsteller? Sie machen den Versuch, in soziale Ebenen einzudringen, die früher verboten waren: Wir drucken „Risikogruppe" von Jewgenij Bogdanow, ein Versuch, früher totgeschwiegene nationale Schicksale in literarischer Form zu verarbeiten; wir drucken „Eine nicht erfundene Landschaft" von Oleg Kling, einem wahren Paria aus der ethnischen Gruppe der Sowjet-Deutschen. Alles das spielt sich ab vor dem Hintergrund einer Lawine von Dokumentarberichten über Straflager (in unserer Zeitschrift die Erinnerungen des Lagerhäftlings Olga Adamowa-Slioz-berg) und einer Flut von politischer Publizistik (wir veröffentlichen Chruschtschow-Biographien von A. Streljany und Roy Medwedjew). Ans Licht gebracht aus der Dunkelheit des Vergessens wurden Chwylebyj, Semenko und Tschulpan - ihnen antworten Adamowitsch, Matewos-jan und Jaworivskij, die führenden Schriftsteller der nationalen Schulen.

Aus dem Russischen von Maria Razumovsky

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