6959159-1984_41_16.jpg
Digital In Arbeit

Befreiung braucht Selbstbesinnung

19451960198020002020

Zwei namhafte Denker aus Osteuropa kommen auf dieser Seite zu Wort. Im folgenden Beitrag werden die polnischen Erfahrungen mit dem so aktuellen Anliegen Befreiung zusammengefaßt.

19451960198020002020

Zwei namhafte Denker aus Osteuropa kommen auf dieser Seite zu Wort. Im folgenden Beitrag werden die polnischen Erfahrungen mit dem so aktuellen Anliegen Befreiung zusammengefaßt.

Werbung
Werbung
Werbung

Polen macht seit langem Erfahrungen mit Befreiungsphilosophie. Sie reichen jedenfalls ins vorige Jahrhundert zurück. „Es war ein großer Unterschied zwischen der Situation in Polen damals und der heutigen Lage in Lateinamerika. Bei uns gab es schon ein ausgeprägtes nationales Bewußtsein. In unserer Geschichte ging es nicht um die Befreiung durch Klassenkampf. Es war vielmehr ein Aufstand gegen fremde Staaten. Die Probleme der Versklavung waren andere", stellt Jözef Tischner fest.

Und wie verhielt sich damals die Kirche? Gab es da auch eine Koalition, wie man sie teilweise in

Lateinamerika antrifft - oder zumindest in der Vergangenheit angetroffen hat -, bei der die kirchliche Hierarchie ein allzu gutes Einvernehmen mit den politischen Machthabern hat?

Nein, in Polen seien schon lange alle Bevölkerungsschichten unter den Priestern und Bischöfen vertreten gewesen, nicht nur die Adeligen. Auch habe sich die gesamte Kirche an dem Befreiungskampf beteiligt. „Jedenfalls hatte die polnische Kirche stets einen sa-maritanischen Instinkt. Sie kam sofort zu Hilfe. Sie war in den Gefängnissen, mitten unter den Leuten. Wir hatten nie diese Allianz zwischen Kapital und Kirche, zwischen Aristokratie und Kirche."

Allerdings sei die Lage im vorigen Jahrhundert für die polnische Kirche nicht leicht gewesen.

1831 habe Papst Gregor VI. in einer eigenen Enzyklika den polnischen Aufstand ausdrücklich verurteilt.

Es sei eben schwer, eine eindeutige Grenze zu ziehen zwischen dem, was nur Politik und dem, was Aufgabe der Kirche ist. Jedenfalls aber habe die polnische Kirche gelernt, daß sie sich im unmittelbar politischen Bereich nicht engagieren solle. Und von dieser Sicht sei natürlich auch der zu polnische Papst geprägt.

„Kirche konspiriert nicht mit Konspiranten, sie projektiert auch keine großen ökonomischen Reformen", zieht Tischner die Lehren aus der polnischen Erfahrung. Wohl aber sei es die Aufgabe der Kirche, die Menschen zu bilden, sie zu einer wahren positiven Haltung zur Freiheit zu führen. Zwischen Religion und Politik gebe es den weiten Bereich der Ethik. Hier habe die Kirche ein weites Betätigungsfeld.

Das deckt sich ohne Zweifel mit den Anliegen der Befreiungstheologen. Sie wollen ja den einzelnen aus dumpfer Apathie herausführen. In den Basisgemeinden Südamerikas wird ja nicht nur miteinander gebetet und gefeiert, sondern auch die Schrift gelesen und der Versuch unternommen, die gesellschaftliche Situation, also die Zeichen der Zeit zu deuten.

Allerdings dürfe man eine solche Deutung nicht mit einseitiger Schuldzuweisung erledigen, meint Tischner. In Polen sei man sich — schon im vorigen Jahrhundert—darüber klar geworden, daß beim Verlust der Freiheit auch eigene Schuld im Spiel gewesen sei. Eine solche selbstkritische Haltung sei unbedingt notwendig:

„Ganze Befreiungsarbeit beginnt beim Schuldbekenntnis. In gewissem Sinn kann man sagen, daß die Armen selbst auch schuldig sind", faßt Tischner diesen Gedanken zusammen.

Damit wolle er durchaus nicht den Unterdrückern das Maß an eigener Schuld verringern.

Vor Einseitigkeit warnt Tischner auch, wenn es um die Frage des Privateigentums geht. „Die Abschaffung von Privateigentum halte ich für sehr gefährlich, möchte aber damit nicht sagen, daß Privateigentum eine große Tugend ist." Obwohl Lateinamerika ganz andere Probleme habe, sollte es diesbezüglich doch nicht von den Erfahrungen im Sozialismus absehen. Dort sei nämlich nicht nur das Privateigentum, sondern alles Private verdächtig. Selbst private Meinungen und Weltanschauungen.

„In der sozialistischen Ethik gibt es nur eine Sünde — aber auch nur eine Versuchung: Etwas zu haben." Jeder versuche, sich am Staatseigentum schadlos zu halten. Es entstehe „ein Volk von Gesellschaftsdieben und Bettlern".

Wenn das auch nicht die heutigen Sorgen Lateinamerikas seien, so müsse man doch diese Folgen auch sehen. Schon Marx habe diese Situation als „rohen Kommunismus" beschrieben und davor gewarnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung