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Befreiung kommt nicht von Marx

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Der FURCįlE-Mitarbeiter im Vatikan. P. Heinrich Sėgur SJ, fiihrte anläßlich eines Rom-Aufenthaltes von Bischof Jose Ivo Lorscheiter. dem Vorsitzenden der Brasilianischen Bischofskonferenz, das folgende Gespräch.

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Der FURCįlE-Mitarbeiter im Vatikan. P. Heinrich Sėgur SJ, fiihrte anläßlich eines Rom-Aufenthaltes von Bischof Jose Ivo Lorscheiter. dem Vorsitzenden der Brasilianischen Bischofskonferenz, das folgende Gespräch.

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FURCHE: Herr Bischof als Präsident der Brasilianischen Bischofskonferenz, der größten im lateinamerikanischen Subkontinent, gehören Sie sicher zu den besten Kennern der kirchlichen und sozialen Probleme in diesem riesigen Gebiet. Nun tagte kürzlich der Lateinamerikanische Bischofsrat CE- LA M in Santiago de Chile. Was waren die wichtigsten Beratungsthemen?

LORSCHEITER: In dieser Vollversammlung bemühten wir uns vor allem aufgrund der Berichte der einzelnen Bischofskonferenzen Lateinamerikas zu ermitteln, wohin der Weg der Kirche gegenwärtig führt und welche Probleme in diesem Zusammenhang aufscheinen. Es liegt nahe, daß die Probleme der Länder Zentralamerikas von besonderer Aktualität waren. Was in diesen Ländern eigentlich vor sich geht, in Nicaragua, El Salvador, Guatemala, Honduras, auch auf den Karibischen Inseln, ist eine Herausforderung an uns alle. Es ist wichtig, daß die Kirche, die Hierarchie, die Ordensleute und die engagierten Laien gemeinsam den Weg der Kirche beschreiten, um die großen Probleme, die uns dort aufgegeben sind, auch gemeinsam zu lösen.

FURCHE: Können Sie uns in Europa näher erklären, welcher Art diese Probleme sind und wie eine Lösung denkbar wäre?

LORSCHEITER: Das ist nicht leicht zu beantworten, zumal, wenn man nicht dort lebt. Bei der letzten Vollversammlung von CELAM hörten wir uns die Meinung der betroffenen Bischöfe an und diskutierten ihre Ausführungen. In diesem Zusammenhang kommt immer wieder das Problem zur Sprache, wie sich die Kirche zu den verschiedenen Regierungssystemen verhalten soll...

Unser Grundsatz ist dabei folgender: Die Reformen im allgemeinen, die Reform der Regierungssysteme im besonderen, müssen rasch auf christlichem Wege verwirklicht werden. Wenn das nicht möglich wird, werden andere versuchen, die Reformen auf dem Weg der Gewalt zu erzwingen, und zwar entsprechend ihren Ideologien.

FURCHE: Und wie sehen Sie eine Reform aus christlichem Geist?

LORSCHEITER: Ein solches Unternehmen ist gewiß nicht leicht. Grundsätzlich müssen wir zwei Richtungen verfolgen, die zwei Postulat^ enthalten: Die Gerechtigkeit mit allem, was darunter zu verstehen ist, insbesondere die soziale Gerechtigkeit, und die Freiheit. Das Problem liegt darin, daß die kapitalistischen Systeme die soziale Gerechtigkeit nicht genügend im Auge behalten, während die marxistischen Systeme die Freiheit zu wenig respektieren. Eine Reform aus christlicher Sicht muß beides, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, garantieren. Das verlangt viel Mut und viel Klarheit.

FURCHE: In Europa hört man immer wieder die Meinung, die ,,Theologie der Befreiung" sei eine versteckte marxistische Ideologie und Teile und Gruppen der lateinamerikanischen Kirche hätten sich bereits bedenklich dem Marxismus genähert.

LORSCHEITER: Wir sind fast schon müde, dies immer wieder zu hören. Zunächst ist festzuhalten: Es gibt ja nicht eine Theologie der Befreiung, man müßte vielmehr von „Theologien der Befreiung“ sprechen. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß der eine oder der andere Theologe über das Ziel hinausschießt. Doch sollte man ehrlich zugeben, daß in anderen Bereichen der Forschung und Wissenschaft ähnliches festzustellen ist. Ich meine, der Begriff der Befreiung ist authentisch christlich.

Er ist ja nicht von Marx erfunden wor den, er stammt aus der Heiligen Schrift. Er ist bereits im Alten Testament enthalten und spielt in der Lehre und im Leben Jesu Christi eine ganz besondere Rolle. In der Bewertung der „Theologien der Befreiung“ sollten wir nicht derartig vorsichtig sein, daß jede Initiative zum erlahmen kommt. Ein Risiko liegt ja in allem, was wir unternehmen. Persönlich vertrete ich die Ansicht, es sei besser, bisweilen in unternehmerischem Geist auch mal einen Fehler zu begehen, als überhaupt nichts zu unternehmen. In der gegenwärtigen Situation ihrer Geschichte haben die Völker Lateinamerikas, aber auch die der gesamten Dritten Welt, ein Recht, von uns Christen Solidarität zu erfahren und Hilfe zu erhalten.

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