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Befreiung trotz schwindender Kraft

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Wer wissen will, wie das Alter und das Altern wirklich sind, der frage die Alten und die, die dabei sind, es zu werden, die mitten in dem Prozeß drinstehen. Fragen: Damit meine ich wirklich fragen, eine Antwort wollen, warten und zuhören können; fragen, damit eine Brücke entstehe, die den Jüngeren und den Älteren miteinander verbindet, die dem Älteren wohltut und dem Jüngeren ein Wissen verschafft, das er selbst gut wird brauchen können. Denn das Altwerden und das Altsein sind schwere Aufgaben. Und bedenkt: Heute wir — morgen Ihr!

Das Alter ist nicht einfach das Resultat eines langen Lebens, denn es fordert zusätzlich wieder ganz eigene Leistungen, die man vorher noch nie eingeübt hat. Früher hat man etwas gelernt, um es immer schneller, immer gründlicher zu können.

Im Alter aber lernt man gegen den Strom der abnehmenden Kräfte. Das Wort „Lernen“ steht hier auch für ein soziales und emotionales Lernen, für jede Änderung durch Erfahrung. Und nur der, der dieses Lernen nie aufgibt, diesen ewigen Kampf gegen die „Rostflecken“, der wirkt auf seine Umgebung lebendig, man rechnet ihm seine Jahre nicht nach.

Schafft aber ein alter Mensch dieses Offensein, dieses Lernen nicht, dann wird er einsam und verbittert, dann wird das Urteil über ihn gesprochen, dann ist er „selber schuld. Er will es nicht anders! Hätte er ein gesünders Leben geführt, hätte er…, hätte er…!“ Und die Umwelt weiß, wie man es besser macht! Und sie hat ein Alibi, sich nicht um ihn zu kümmern, ihn allein zu lassen, er ist ja schuldig!

Wenn wir aber diese Schuld näher betrachten, dann kommen wir darauf, daß Mangel und Verhängnisse in diesem Leben gewaltet haben. Es gilt, die Frage zu stellen: Wie ist dieser konkrete Mensch so geworden, wie war sein Leben, konnte er wachsen und gedeihen und Frucht bringen? Und

woher nimmt er heute das lebensnotwendige Quantum an Freude?

Stellen wir aber auch Fragen, auf die wir nur ungern eine Antwort entgegennehmen. Was macht das Altwerden und Altsein schwer? Ich beziehe mich auf viele Gespräche mit Betagten und Hochbetagten und auf meine eigenen Erfahrungen mit dem Altwerden. Vor allem aber auf zahllose Berichte von Heim- und Familienhelferinnen im Einsatz.

Schwer ist es, sich von der Schönheit, Elastizität und Mobilität seiner Jugend zu trennen. Schwer, seine Leistungsfähigkeit immer kleiner werden zu sehen, daran seinen Arbeitsrhythmus anzupassen und vielleicht geliebte Dinge nicht mehr tun zu können und aufzugeben.

Schwer ist es, alte Freunde durch den Tod, durch schwere Krankheit oder Übersiedlung ins Heim zu verlieren.

Quälend ist es, an sich selbst das Verschlissensein zu erleben: Der Geist wird schneller müde, der Körper schneller krank. Eine Krankheit gesellt sich zur anderen und alle bleiben lang oder für immer. Man nennt das die Multimorbidität, das klingt sachlich und macht es für die anderen leichter.

Man wird seine Krankheiten nicht mehr los. Gerade dieses nie mehr gesund und heil werden ist es, was das Krankheitserleben des alten Patienten von dem des jungen trennt. Der junge Patient hofft in der Regel auf baldige und volle Wiederherstellung. Mancher alte Mensch lebt ständig mit Schmerzen und bezeichnet als seine einzige Freude, wenn die Schmerzen geringer werden. Das ist eine ganz negative Definition der Freude.

Schwer ist es, mit bedeutend kleineren Einkünften hauszuhalten, wenn man für viele Handreichungen fremde Hilfe braucht. Schwer auch, immer mehr auf ei

ne Wohnung angewiesen zu sein, die in den seltensten Fällen altersgerecht ist. Und diese dann auch noch zu verlassen, weil es nicht mehr geht, alles, alles herzugeben und seinen „Besitz“ in einem Bett und einem Nachtkastl zu sehen.

Schrecklich ist es, den Lebenspartner zu verlieren; und sich selbst dem Tode so nah zu wissen, wenn man diese Welt doch liebt.

Unvorstellbar ist es, den eigenen Geist täglich schwächer zu erleben. Alle anderen Verluste können nicht das Entsetzen hervorru- fen, das ein alter Mensch erlebt, der seinen Geist schwinden fühlt, seinen innersten Besitz, der altvertraute Worte mühsam suchen muß und sich mit der größten Anstrengung nicht mehr in Zeit und Raum zu orientieren vermag.

Aber am allerschwersten ist es, die entsetzliche Verlassenheit zu ertragen, die Kälte, die Dunkelheit und die Totenstille. Und die eigenen Kinder finden den Weg nicht mehr. Aber wir hätten noch so vieles mit ihnen besprechen wollen, eine Spur in der Welt hinterlassen, geliebt sein, wissen, daß „nachher“ noch jemand an uns denkt, und uns versteht, uns verzeiht.

„Gedenkt mein mit Nachsicht …“, so sagt es Bert Brecht. Gedenkt mein mit Liebe, mit Verständnis — das ist die Sehnsucht, die oft einsam und unerfüllt getragen wird.

Das Alter fordert von uns eine Emanzipationsleistung, die wir trotz schwindender Kräfte zu erbringen haben. Wir müssen uns weitgehend freimachen von der Vorstellung, daß unsere Kinder unsere Träume verwirklichen sollten oder könnten! Nicht nur die leiblichen Kinder, „die ganze heutige Jugend“ — sie alle müssen in ihrer Zeit mit ihren Aufgaben und nach ihren Vorstellungen fertig zu werden suchen.

Wir müssen uns freimachen von der uralten Erfahrung einer strafenden oder lobenden Mutter. Von all den Folgen einer Erziehung, die auf Anhänglichkeit und Abhängigkeit ausgerichtet war. Weder der „Herr Doktor“ noch die Schwester oder der Heimleiter haben ein Anrecht auf so viel Demut und Unterwürfigkeit, wie sie ihnen oft entgegengebracht werden.

Mit der schwindenden Kraft steigen der Wunsch und die Illusion in uns auf, daß es Instanzen gäbe gleich unserer allmächtigen Mutter, auf die wir uns bei entsprechendem Gehorsam total verlassen können. Im Alter ist jeder sein eigener, einziger und bester Verbündeter.

Das nie gelernte Selbstvertrauen, der untrainierte Mut, die unerfüllten Wünsche, die nie gesungenen Lieder, die nie erkannten und nicht verteidigten Bedürfnisse — und die gut gelernte Resignation und Traurigkeit, die trainierten Zweifel am Wert der eigenen Person, die erfüllten schwarzen Prophezeiungen bannen viele alte Menschen in die eigenen vier Wände, lange, bevor das hohe

Alter oder die Krankheit tatsächlich jeder Unternehmung einen Riegel vorschieben.

Man kann aber auch staunend erleben, wie alte Menschen aufleben, wenn sie zueinander finden, sei es in einer neuen Partnerschaft. in einem privaten Kreis, in einem Pfarrklub. oder in einem Heim. Miteinander lernen sie, einander zu verstehen, einander zuzuhören, ohne ein Urteil zu fällen, ohne die „guten Ratschläge“ aus der Tasche zu ziehen.

Diese Oruppe kann dann wachsen in ihrer Solidarität, jeder einzelne erfährt Ermutigung und Stärkung, um seine ureigene Seelenarbeit mit dem Verständnis und der menschlichen Wärme der anderen zu leisten.

Das Verlangen nach einem menschlichen Gegenüber ist sicher ein Grundbedürfnis des Menschen. Alleinsein und Beisammensein, Geben und Nehmen, Fragen und Gefragtwerden, Sprechen und Zuhören, Arbeiten und Ruhen — das alles ist so wichtig wie Einatmen und Ausatmen.

Solange ein Mensch für sich selbst verantwortlich sein kann, möge er sich diesen Rhythmus erhalten, Angst und Resignation erkennen und bekämpfen und zu überwinden trachten, um immer wieder den Weg zu anderen Menschen zu finden.

Die Autorin ist seit zehn Jahren tätig als Arzt im Unterricht an Sozialakademien und Schulen, die soziale Berufe aus- und weiterbilden und sie ist Mitarbeiterin der Caritas Socialis.

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