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Befreiung von Ängsten

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Die sexuelle Revolution war Befreiung, aber auch Öffnen von Schleusen zu einer Vermarktung und Ausbeutung der Sexualität als Konsumgut

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Die sexuelle Revolution war Befreiung, aber auch Öffnen von Schleusen zu einer Vermarktung und Ausbeutung der Sexualität als Konsumgut

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Durch Jahrhunderte haben Theologen ausgehend von Paulus und Augustinus ein verkürztes Verständnis von Sexualität vermittelt und diese den Kategorien des Triebhaften und Bösen zugeordnet. Die Identifikation von sexueller Freude mit Sünde, eingebettet in ein System absoluter Körperfeindlichkeit, ist zur Grundlage der kirchlichen Sexualmoral geworden. Sie entwickelte sich - zum Teil bis heute - zu einem Instrument der Unterdrückung und Beschneidung des Menschen in seinen vielfältigen Lebens- und Liebesmöglichkeiten.

Die sexuelle Revolution in den sechziger Jahren war zwar angetreten, den Körper aus dem Machtbereich der Kirchen zu befreien, öffnete damit aber die Schleusen zu einer anwachsenden Vermarktung und Ausbeutung von Sexualität als Konsumgut. Was aber nach wie vor aussteht, ist die Entdeckung und Entfaltung von Sexualität als ganzheitliche Lebensäußerung, als Ausdrucksmittel körperlicher Zuneigung und Begegnung, als intime Sprache der Berührung und Zärtlichkeit.

Meine eigenen Denkansätze habe ich weitgehend von Hans Georg Wiedemann übernommen, der in seinem Buch „Homosexuelle Liebe. Für eine Neuorientierung in der

christlichen Ethik" diese Befreiung und Öffnung von Sexualität in völlig andere Dimensionen hinein fordert.

Evangelische Ethik orientiert sich am Evangelium Jesu Christi als befreiender Botschaft von der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt. Sie ist eine Ethik der Befreiung von Ängsten zu einem vor Gott und unserem Nächsten verantwortlichen Leben. Für eine evangelische Sexualethik bedeutet das: Entwickle ein positives Verhältnis zum eigenen Körper. Er ist dir von Gott geschenkt mit all seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten bei der Arbeit, im Spiel, im Tanz, in der Erotik.

Wir wenden viel Zeit und Mühe auf, um sprechen oder tanzen zu lernen, um eine Sportart zu beherrschen. Nur im Bereich von Sexualität glauben wir, das sei etwas Natürliches und hätte mit Lernen nichts zu tun. Dagegen behaupte ich: Die Sprachfähigkeit meines Körpers will erlernt, will eingeübt werden. Aber wie soll dies möglich sein auf dem Hintergrund einer Fülle von anscheinend unaufgebbaren christlichen Moralforderungen, die Sexualität nur im Zusammenhang mit der möglichen Zeugung von Kindern gutheißen können. Deshalb will evangelische Sexualethik einen Prozeß unterstützen, der zu einem liebenden, verantworteten und positiven Umgang mit meinem Körper und dem meines Gegenübers führt.

Welche Konsequenzen hat das für

die umstrittenen Themen kirchlicher Sexualmoral?

Selbstbefriedigung als Entdek-kung meines eigenen Körpers kann ein hilfreicher Schritt auf dem Weg zu einem erfüllten Sexualleben sein.

Im Zuge ihrer Entwicklung durchleben die meisten Menschen eine Phase der Hinwendung zum eigenen Geschlecht. Im Zulassen der Erinnerungen daran werden die Gefühle homosexuell lebender Menschen nachvollziehbar. Ich lerne, sie zu akzeptieren, ich setze mich dafür ein, daß die Gesellschaft sie aus ihrem Ghetto befreit, ihnen ein Leben in normalen Bezügen garantiert.

Neue Mittel haben den Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihre Sexualität zu leben ohne ständige Angst vor ungewollter Schwangerschaft oder Infizierung mit Aids. Sexualität als Geschenk, als Gabe Gottes, trägt das Recht auf Lebensvollzug in sich. Evangelische Ethik will dazu ermu-

tigen, mit dieser guten Gabe Gottes lustvoll, aber gleichzeitig verantwortungsvoll umzugehen. Sie wird sich deshalb bemühen, die Liebesfähigkeit von Menschen zu wecken, ihre Bindungsfähigkeit zu fördern und ihre Konfliktbereitschaft zu stärken.

Klingt das alles zu einfach? Konkrete Lebensentscheidungen muß dennoch jeder einzelne treffen und verantworten. Dazu benötigen wir Regeln, Spielregeln, an denen wir uns orientieren können. Doch diese Regeln können nicht Theologen, Päpste oder Kirchen formulieren. Hier braucht es Menschen, Eltern, Lehrerinnen, Pfarrerinnen, die Orientierungshilfen geben und zu Gesprächspartnerinnen auf diesem Entwicklungsweg werden. Information und emotionale Begleitung müssen dabei Hand in Hand gehen.

Wenn der junge Bursch, das junge' Mädchen mit Moltmann-Wendel sagen kann:'ich bin gut, ich bin ganz, ich bin schön - werden sich aus diesem Selbst-Bewußtsein heraus Verhaltensweisen entwickeln, die die eigenen Grenzen und die Grenzen des Gegenübers akzeptieren können ohne Verurteilung von Verhaltensweisen, die nicht den eigenen Möglichkeiten entsprechen.

Die Autorin

ist stellvertretende Superintendentin der Evangelischen Kirche AB in der Steiermark

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