6987595-1986_32_09.jpg
Digital In Arbeit

Begegnung in der Stille

Werbung
Werbung
Werbung

J\ y\ einem Spätnachmittag, jlXJLI unter einem anderen Licht siner südlichen Stadt am Meer, war er, der Priester — vor Jahrzehnten aus dem fernen Norden in diese Stadt gekommen — wieder unterwegs zu den Kranken, zu seinen Kranken. Wie jeden Donnerstag. Man sah es von weitem, daß er ein Priester war, und er gehörte in der Tat zu den Erscheinungen, die ein Stadtbild mitprä-' gen, wenn er so durch dunkle, teils verfallene Bezirke mit den engen, winkeligen Gassen schritt.

Die Menschen, diecalten, die großteils in diesen „inneren Bezirken“ das wirkliche Leben, aus den Fenstern gebeugt, mitverfolgten, kannten diese Gestalt; sie wußten, es war wieder eine Woche vorübergegangen. Doch keiner dieser Zuschauer, Lebensbeschauer, dachte daran, daß die Falten in ihren Gesichtern wieder unmerklich tiefer und schärfer geworden waren. Sie sahen daher, vom Beobachter gesehen, seltsam fern aus verschiedenen Höhen in dieses Treiben, in dieses Vorbeifluten von Leben; dort unten aber waren schon andere Menschengesichter, junge, aus einer anderen Zeit, Welche die taghelle Wirklichkeit bestimmten.

In einem nur dumpfen Gefühl, nie deutlich, kaum sprachlich ausgedrückt, wußten die Alten um ihren Rückzug. Manchmal schreckten sie auf, wenn allzu nah aus einem anderen Fenster oder gleichzeitig aus vielen eine für sie fremde Musik aufheulte, die nie die ihre war und die sie in alle Zukunft niemals mehr begreifen konnten. Hier setzten die Erinnerungen ein, die Zwangserinnerungen, worin Vergessenes wieder auftauchte. Daraus, in jenen seltenen Augenblicken, ergab sich die tiefe Sanftheit, die es möglich machte, weiterzuleben; weiter täglich aus dem Fenster zu sehen, in gewohntem Abstand, mit dem Wissen, hinter sich die vertrauten Entfernungen zwischen Tisch und Bett, Tür und Fenster leiblich zu fühlen. Das gab die Sicherheit, das schaffte ein Zuhause, denn die Scheu wurde von Tag zu Tag größer, sich hinab der immer rasenderen Wirklichkeit auszusetzen. Aussetzen, welch ein furchterzeugendes Wort!

Hier unten, alle sahen es, ging wieder jener anscheinend Einsame, der Priester, weit vorangeschritten in den Jahren, erkennbar an der Farbe der Haare,die silbern unter der blauen Baskenmütze hervorquollen; alle warteten darauf, daß er vorbei an herumtollenden Kindern und schlafenden, mageren Katzen in jenes bestimmte Haus eintrat, das ihm Ziel schon seit vielen Jahren war. Ja, die stummen Lebensbeschauer wußten, daß es viele ihresgleichen noch gab, verborgen hinter'der Dunkelheit der Fenster, der Mauern, die nicht mehr die Kraft hatten, sich noch ein wenig ans Licht zu drängen, sich am pulsierenden Leben zu weiden, denn Krankheit war für ihr Dasein bestimmend geworden. In zählbaren Augenblicken, vielleicht an einem Frühlingsabend, wenn das Meer wieder aufleuchtete, dachten die Fensterbewohner an jene den Blicken Entzogenen in den stillen Hinterzimmern, wo manchmal noch der Gesang der Vögel zu hören war; in diesem Nachsinnen — manche spürten es überdeutlich — tat sich unvermittelt eine nichtgewollte Leere auf, Sekunden der Angst, des Nichts dehnten mit einem Male die Zeit, schreckhafte Stille, doch das Licht, der Geruch des Meeres, das vorüberbrandende Leben der Stadt verdrängte rasch die befremdlich heranstürzenden Bilder. Sie starrten nur noch angestrengter, noch trotziger aus ihren Fenstern.

Der Alte, der Priester, fühlte ihre rastlosen Blicke. Er kannte diese örtlichkeit, die Atmosphäre dieser kleinen, fast schäbigen Gasse. Dennoch schaute er auf und nickte leicht den Leuten zu und bemerkte alsgleich ihr leichtes Zurückweichen; es nahm sich aus wie das Weiterschwingen eines großen Vorhanges.

Er hatte sein Ziel erreicht. Kaum sichtbar strich er einem kleinen Kind über das weiche, dunkle Haar und lächelte, bevor er in den dunklen Hausflur trat. Geblendet vom gleißenden Tageslicht tastete er sich die Stufen abwärts, um endlich eine unverschlossene Wohnung zu betreten. Er kannte die^Räume, die Möbel, die Bilder, den Geruch. Mit der Umgebung vertraut, klopfte er leise an eine bestimmte Tür und trat ein. Sie, die Malerin, lag regungslos im Halbdunkel, ihre Augen schienen aufgeblüht wie schwarz gewordene Höhlen mit einer Tiefe, die keine allzulange Zukunft verhieß. Ihr Gesicht mit dem versickernden Leben war nicht mehr nach außen gekehrt, sondern nach und nach in sich, verkrochen in unheimliche Falten und Winkel.

Der leise Besucher, der Prie-ster, hatte, wie die vielen Jahre zuvor, an der Seite des Bettes auf einem Stuhl, der einzig auf ihn zu warten schien, Platz genommen und schwieg. Es war ein gemeinsames Schweigen, das irgendwie, langsam, zu ihrer verfeinerten Sprache geworden war, in der Unausgesprochenes, nicit lautes Verstehen lag. Langsam glitt sein Blick durch den dämm-rigen Raum, wo eine große Zatil von Gemälden an den Wänden hing oder wahllos an Kästen und Stühle gelehnt herumstand. Die >e leichte Unordnung erweckte den Eindruck, als wären die Bilder nie abgeholt worden. Er wußte, die Kranke, seine Bekannte, die seit vielen Jahren nicht mehr malen konnte, hatte bei zwei, drei Ausstellungen in dieser südlichen Stadt keinen Erfolg gehabt; ur' war es, der unbekannterweise Bilder kaufte und zu Hause die >e verborgen verwahrte. Immer wieder suchte er sie dort auf, betrachtete sie, grübelte über die merkwürdigen Farben nach, die ihm eine Wirklichkeit zeigten, die ihm fremd war. Für ihn gab es kein Abbild solch einer Welt.

Jetzt, wo er in diesem Krankenzimmer saß und auf das Vogelg e-zwitscher aus dem Hinterhof horchte, überfiel ihn wieder die Fremdartigkeit der Farben der Bilder im Halbdunkel, und verwirrt blickte er plötzlich voll in das Gesicht der Kranken. Sie lächelte. Sie kannte sein jahrelanges Ringen um das Begreifen ihrer Welt, die sie in schreiende Fa r-ben gepreßt hatte und die nun gleichsam aus den Bildern rannen, so wie ihre Krankheit aus allen Poren und Offnungen ihres Körpers zu quellen schien. Sie hatte immer geduldig seiner Ungeduld standgehalten; die Krankheit hatte ihr dazu eine fremde Kraft gegeben.

In diesem Geschehen war ihn sein Altern, sein Scheitern allmählich klarer geworden; mit erregter Angst bemerkte er manchmal das Kleinerwerden seiner Gemeinde, vor allem an hohem Festtagen, wenn sich nur noch al te Menschen um ihn scharten. In diesen Augenblicken einer beklemmenden Leere, vollgefüllt mit Verzweiflung, tauchte unve::-mittelt, immer deutlicher, das Bild der Kranken, der Malerin,: n seinem Bewußtsein auf, in ihn er schwebenden Ruhe, mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, ja auch gegen seine Lehre, die er angewiesen war zu verbreiten, zu predigen. Sie hatte ihn nie nach Gott, nach seinem Gott, gefragt, auch nicht in den düstersten Stunden der Krankheit. In den früheren Jahren hatte er ihr noch von seiner Gemeinde, von seinen Krankenbesuchen erzählt, sie hatte dazu geschwiegen, aber nie feindlich, und er war langsam stiller geworden. Auf diese Weise waren sie einander zugewachsen im Erleben von Krankheit, von Altern, von seinem Altern, das ja auch eine Krankheit war, und sie begriffen sich fortschreitend eines Tages als Uberlebende in einer Zeit der billigeren Entwürfe. Sie brauchten einander, jeder der beiden lebte damit schon lange, aber keiner hatte es bisher ausgesprochen.

Leise war er aufgestanden und hatte sanft ihre auf der Bettdecke matt liegende Hand ergriffen, er drückte sie ein wenig; sie kannte auch dies seit langer Zeit und hatte mit geschlossenen Augen darauf gewartet, es war wie ein Gebet. Der Alte, der Priester, wußte in diesen Augenblik-ken, in diesen hervorgestülpten Zeitschnitten, daß dies jenes Geschehen, jenes Geheimnis sein mußte, wovon in seinem großen Buch, im Buch der Bücher, die Rede war. Täglich hatte er, fast ein Leben lang, darin gelesen, darüber mit anderen, meist jedoch mit sich selbst gesprochen. Allein auch weiterhin wohnte in ihm das Gefühl, das große Geheimnis, den Ruck in der Welt nie wirklich erfahren zu haben. In diesen Minuten, in diesem halbdunklen Krankenzimmer, in seiner Hilflosigkeit vor diesem verlassenen Menschen vermeinte er nahe vor der Antwort des Rätsels, seines Rätsels, zu stehen.

Mit einem Mal tauchte vor seinen Augen wieder das Meer auf, auf welches er in stundenlangen, unruhigen Spaziergängen hinausstarrte, auf die Schiffe, die meist träge, scheinbar unbeweglich, dalagen, als wären sie im bleiernen Spiegel des Wassers eingeschmolzen, für immer. Und, am nächsten Tag, wieder auf unruhigen Wegen, waren diese Schiffe verschwunden, das Meer wie nach einem langen Sturm blank gefegt.

An dieser Stelle des Erlebens hielt er inne, überrascht, und fragte sich, was an diesen verlorenen Schiffen ihm so bedeutsam erschien. Er bemerkte die heimliche Wehmut, die die leere Wasserwüste in ihm hervorrief, ohne sie benennen, mit Worten beschreiben zu können. Er drehte sich dem Land zu, das Meer im Rücken, verlor im Betrachten von blühenden Tamarisken und Oleandersträu-chern sein vordergründiges Bewußtsein, entdeckte das tiefere, das dunklere dahinter, worin er keine sprachlichen Bilder mehr erkennen konnte. Dieser Raum war ihm wie eine große schwarze Öffnung, die ihn aufzusaugen drohte. Er begegnete immer wieder diesen Leerstellen, auch beim täglichen Lesen des großen Buches, und er fragte sich, wie die anderen durchhielten, an diesen Beklemmungen vorüberzukommen. Oder waren dies nur Eingebungen, die allein aus den undurch-schauten Tiefen seines Ichs, auch nach einem langen Leben, unentwegt emporgeschwemmt wurden?

Er hielt noch immer, er hatte es vergessen, die Hand der Kranken umklammert, sie war ruhig geblieben, ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, damit sie ihm - sie ahnte, was in ihm vorging - nicht ins Gesicht, in die Augen sehen mußte. Sie wußte um seine Verletzlichkeit, seine Scham, um seine Ichbrüche. „Coraggio“, sagte er leise, und seine Hand strich langsam in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung über ihre Stirne, eine Bewegung, nicht unähnlich einem Kreuz. „Coraggio“, erwiderte sie mit einer verwunderlich festen Stimme und sah ihm wieder offen ins Gesicht. In diesen Momenten, in dieser Anstrengung, durch all die Jahre lag es unvermittelt offen da: der Ruck der Welt — und sie, die Gefährtin in diesen Beklemmungen, hatte es immer gewußt. Im Warten, im Ruhig-Sein war es gewachsen, in der Sprachstille eines dämmrigen Hinterhofes, verborgen hinter der Abgeschiedenheit von Mauern und Fenstern, im Wandel von Tag und Nacht lag die Bewegung, die große Bewegung, lag ihr Geheimnis.

Lj war wieder in das schmerz-JL-/JL liehe Licht der Straße hinausgetreten, auf dem Weg zu anderen Kranken, als ihn die Blicke der Menschen erneut einfingen, diä an den Fenstern ausgeharrt hatten — in Erwartung seines Kommens. Verstohlen warfen sie einander bedeutsame Blicke zu und hofften, ja wußten, er, der alte Priester, würde wiederkommen, in einer Woche, denn er war ein Teil ihrer Welt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung