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Behinderung als Chance

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Scheint das Jahr der Behinderten nicht längst vorbei zu sein? Dieser Beitrag erinnert an das Grundanliegen, die Änderung unserer Einstellung zum (behinderten) Mitmenschen.

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Scheint das Jahr der Behinderten nicht längst vorbei zu sein? Dieser Beitrag erinnert an das Grundanliegen, die Änderung unserer Einstellung zum (behinderten) Mitmenschen.

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Mit einer Behinderung zu leben ist schwer. Schwerer auf jeden Fall, als ohne sie. Kein Behinderter käme je auf die Idee, seine Behinderung zu lieben, wie auch kein Kranker seine Krankheit lieben kann.

Viele Krankheiten und Behinderungen erschweren ihre Annahme obendrein, dadurch, daß sie schubweise verlaufen. Multiple Sklerose und Ertaubung gehören zum Beispiel dazu. Zeiten scheinbaren Stillstands wechseln mit solchen rapiden Fortschrei- tens ab.

Kaum in seinen Zustand integriert, muß der Behinderte und Kranke umlernen. Was gestern möglich war, ist heute unerreichbar. Man bleibt dauernd im Trab und ist darin den Gesunden, Nichtbehinderten merkwürdig ähnlich, die vom Leistungsdruck unserer Gesellschaft in Atemnot gebracht werden.

Behinderte tragen an ihrem Leib oft sichtbar die Folgen schuldhaften Leichtsinns, den wir alle schon beginnen, billigten oder stillschweigend duldeten.

Mehr als 60 Phon verträgt das menschliche Ohr nicht. Fast jeder

junge Mensch aber verbringt viele Stunden seiner Freizeit in Diskotheken, deren Lärmpegel weit darüber liegt. Die Folgen lassen sich statistisch nachweisen und überdies bei jedem Facharzt erfragen: der Anteil jugendlicher Patienten mit Gehörschädigungen nimmt permanent zu.

Ein anderes Beispiel: Solange es militärische Paraden gibt, paradieren am Ende eines Krieges

auch Rollstuhlfahrer, Amputierte und Blinde, um sich den Dank des Vaterlandes in Metall an die Brust heften zu lassen.

Und schließlich, aber mit Billigung fast aller geschehen: der Autorennfahrer, welcher sich bei halsbrecherischem Überholmanöver - eben — die Halswirbel bricht und noch von Glück sagen kann, daß er mit dem Leben davongekommen ist. Sie alle sind ein lebendes Mahnmal für Schuld, die wir begehen oder dulden.

Wundert es uns, daß Jesus dem Gelähmten erst Vergebung der Schuld zuspricht und dann die

körperliche Unversehrtheit wiedergibt? Wenn sonst nichts — weder Solidarität, Barmherzigkeit oder wenigstens Mitgefühl — als Brücke zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, zwischen Kranken und Gesunden tragfähig genug wäre: dieses stellvertretende Tragen der Folgen von Schuld, die wir alle auf dem Gewissen haben, sollte sie zusammenbringen.

Eine Ahnung davon haben viele — sie muß in diesem Zusammenhang aber auch einmal deutlich ausgesprochen werden. Gewiß: niemand kann sich in den letzten Fragen, die an ihn ergehen, im eigentlichen Wortsinn vertreten lasseh.

Ich kann ja auch, um nur ein Beispiel zu nennen, die Armut in der Dritten Welt, die buchstäblich zum Himmel schreit, nicht dadurch lindern oder gar beseitigen, daß ich selbst arm zu werden beschließe.

Allenfalls kann ich ein Zeichen setzen, durch das ich mich für mitschuldig erkläre - muß aber vor allem tatkräftig dafür sorgen, daß die Ursachen dieser Schuld beseitigt werden. Sie selbst jedoch ruft nach dem, der in den Riß zwischen Gott und Mensch trat

und ihn durch sein Kreuzesopfer ausfüllte, nach Jesus Christus.

Sein stellvertretendes Leiden kommt unweigerlich in den Blick, wenn wir von Stellvertretung reden. Wollen wir mit unserer Behinderung oder wollen wir mit Behinderten leben: der Unterschied ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In beiden Fällen können nicht die Hindernisse verschwiegen werden, die wir zwischen uns und Gott und damit auch zwischen uns und den Mitmenschen errichtet haben.

Jahr der Frau, Jahr des Kindes — und nun, 1981, Jahr der Behinderten? Es ist etwas unter uns nicht in Ordnung, daß wir so in die Jahre kommen.

Immerhin, sagt die Statistik, ist etwa jeder zehnte Zeitgenosse ein Behinderter, in den Vereinigten Staaten angeblich sogar jeder siebte. Mit der Behinderung leben ist schwer, sagten wir eingangs. Mit Behinderten leben ist oft

nicht viel leichter. Angehörige tragen ein schweres Kreuz.

Ich bin selbst behindert und weiß, wovon ich rede. Trotzdem meine ich, daß eine Welt ohne Behinderte kaum zu ertragen wäre. Sie sind nicht nur, wie vorher dargelegt, ein notwendiger Stachel für unseren oberflächlichen Glauben, sondern auch eine Chance zur Liebe und zum Geliebtwerden, die ihresgleichen sucht.

Allerweltsglaube wird durch sie heilsam erschüttert und neu gegründet, Allerweltsliebe von ihnen zur Ordnung gerufen und mit konkreten Aufgaben ausgerüstet. Behinderte und Kranke tragen einen Pfahl im Fleisch, der nie aufhört, Schmerzen zu bereiten.

Sie sind aber auch ein Pfahl im Fleisch der Christenheit, der die Hoffnung auf eine Welt wachhält, in welcher Blinde sehen. Lahme gehen. Aussätzige rein vu ‘den und Taube; wieder hören.

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