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Behutsam wie eine Hebamme

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Das ungarische Staatsoberhaupt, der Dichter und Literat Ärpäd Göncz (70), hielt sich am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche anläßlich der deutschsprachigen Uraufführung seines von Georg Köväry übersetzten Stückes „Bilanz" im „akzent" in Wien auf. Die FURCHE sprach mit ihm in seiner Residenz im Budapester Parlament unter anderem über die möglichen nationalistischen Konflikte in Mitteleuropa.

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Das ungarische Staatsoberhaupt, der Dichter und Literat Ärpäd Göncz (70), hielt sich am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche anläßlich der deutschsprachigen Uraufführung seines von Georg Köväry übersetzten Stückes „Bilanz" im „akzent" in Wien auf. Die FURCHE sprach mit ihm in seiner Residenz im Budapester Parlament unter anderem über die möglichen nationalistischen Konflikte in Mitteleuropa.

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FURCHE: In Mitteleuropa, speziell in den ehemaligen kommunistischen Ländern, hat sich der Typ eines aktiven Staatspräsidenten entwickelt, den auch Sie darstellen, der nicht bloß repräsentiert, sondern sich nicht scheut, ins aktuelle politische Geschehen einzugreifen, wenn es erforderlich ist. Vaclav Havel hat dies getan, in Österreich versucht es auch Thomas Kle-stil.

STAATSPRÄSIDENT ÄRPÄD GÖNCZ: Das kommt aus meiner Beurteilung der Lage Mitteleuropas. Nach einer langen Friedenszeit kann sich in einem Lande eine protokollarische Präsidentschaft entwickeln. Dann funktioniert die Demokratie reibungslos, die ungeschriebenen Gesetze kommen zur Geltung, der Präsident kann ein ausgewogenes System vertreten. Die Länder Mitteleuropas, die früher der sowjetischen Herrschaft unterstanden und jetzt die Probleme von 40 Jahren bewältigen müssen und sich auf dem Weg der politischen und sozialen Umwandlung befinden, sind noch nicht so weit, daß sich ein Traditionssystem der Demokratie etabliert hätte. Sprechen wir auch von jenen Ländern, wo es bereits Demokratie gibt, diese eine bestimmte Rolle spielt, es aber außerordentliche Probleme zu bewältigen gilt, wie beispielsweise Deutschland mit seinen Sorgen der Wiedervereinigung oder Österreich mit der Überwindung des Neutrali-tätsstätus: all diese Länder befinden sich in einer Lage, in der der Präsident wieder etwas mehr ist als bloß eine symbolische Figur.

Wenn er kein Parteipolitiker ist - wie es bei den Präsidenten in diesen ehemaligen sozialistischen Ländern, eigentlich in diesem gesamten geographischen Bereich der Fall ist - kann er sich den Luxus leisten, die Sorgen des gewöhnlichen Menschen und derGesellschaft der politischen Elite zu übermitteln. Früher herrschten Könige von Gottes Gnaden, heute muß ein Präsident seine ihm vom Volk gegebene Macht auch benützen können. Und das hat Gewicht, solange die Bevölkerung eines Landes seine Persönlichkeit akzeptiert, solange seine Meinung glaubwürdig ist und solange er die Minderheiten in der Gesellschaft vertritt, das heißt die Minderbemittelten und auch jene Schichten, die sich am Rande der Machtpolitik befinden, verdrängt aus dem Zentrum der Macht. Das kann man in keiner Verfassung festhalten; das verlangt der Zeitgeist.

FURCHE: Das scheint gemeinsame Überzeugung in Mitteleuropa zu sein. Hat nicht aber der Nationalismus gewisse Illusionen von einer gemeinsamen politischen Basis in den Ländern Mitteleuropas, repräsentiert durch den Präsidenten, zerstört? Denken wir nur an Havel.

GÖNCZ: Es bestehen Gefährdungen für die Demokratie in ganzOsteu-ropa. Das Gespenst des Nationalis-

mus meldet sich viel ausgeprägter dort, wo innerhalb eines Landes Nationalitäten vorhanden sind. Ein extremes Beispiel ist Jugoslawien. Nicht so extrem ist die Situation in der Tschechoslowakei. Diese Entwicklung ist nicht unbedingt negativ, wenn sie sich glatt und verfassungsmäßig abspielt. Es kann dann zwar zu einem rechtsstaatlichen Bruch kommen, darunter müssen aber nicht die kulturellen Beziehungen leiden oder gar abgebrochen werden. Es muß also nicht soweit kommen, daß man die Kontrolle darüber verliert.

Ungarn befindet sich in dieser Hinsicht inmitten eines turbulenten Geschehens. Gott sei Dank sind wir in einer glücklichen Lage. Die verfassungsmäßigen Einrichtungen funktionieren. Natürlich kann sich Ungarn von unmittelbaren Nähen nicht ganz freimachen. In wirtschaftlicher und stimmungsmäßiger Hinsicht erreichen uns alle Wogen - und das hat politische Auswirkungen. Ich meinerseits will dieser Sache keine übermäßig große Bedeutung beimessen - in Ungarn handelt es sich bezüglich des Nationalismus um die Nebenerscheinung eines Umwandlungsprozesses. Entsprechende Meinungsumfragen be-

legen keine massenhafte Unterstützung unter der Bevölkerung. Gewisse Äußerungen kommen aus der Mitte der Regierungspartei. Es handelt sich darum, daß ein parteiinternes Problem auf eine nationale Ebene gehoben wird.

FURCHE: Besteht angesichts des flackernden und manchmal bereits lodernden Nationalismus eine reale Gefahr für Mitteleuropa bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wenn wir an die Probleme der Ungarn in der Wojwodina, in Siebenbürgen und in der Slowakei denken?

GÖNCZ: Ehrlich gesagt, halte ich das für außerordentlich unwahrscheinlich. Die Beziehungen Ungarns zur Slowakei sind ein ganz bißchen schwieriger als die von siamesischen Zwillingen. Natürlich kann man das Zusammenleben beider Länder stören, aber die grundlegende Voraussetzung, daß wir in Frieden leben müssen, ist zu zerstören fast unmöglich.

Die Lage der Ungarn in der Woj wo-dian ist besorgniserregend. Man sollte aber nicht unbedingt den Teufel an die Wand malen, denn an die Wand gemalte Teufel könnten zum Leben erwachen.

Was Siebenbürgen angeht, so ist das Zusammenleben von Ungarn und Rumänen unvermeidlich. Irritierun-

gen beginnen dann, wenn bestimmte Gruppen und Schichten dies vergessen möchten, wenn sie - und das gilt für alle Länder - in der Innenpolitik ethnische Minderheiten wie Bauernfiguren behandeln.

Auf alle Fälle müssen wir damit rechnen, daß in diesen Ländern die genannten Probleme 70 oder 40 Jahre unter den Teppich gekehrt worden sind, daß es aber Probleme sind, die sich bereits im Bewußtsein dieser Völker festgesetzt haben. Es ist für uns eine Tagesaufgabe, diese zu lösen. Wir müssen aber an die Lösung mit der Geduld einer Hebamme herangehen. Wie lange das Nachleben dieser überholten und staubigen Komplexe dauern kann, zeigt zum Beispiel die Schändung jüdischer Friedhöfe in Ostdeutschland. Es zeigt sich, daß es Antisemitismus in einem Land geben kann, in dem es überhaupt keine Juden gibt.

FURCHE: Sie haben das Stichwort Antisemitismus gegeben. Auchvon Ungarn wird berichtet, es gleite in antisemitisches Falwwasser ab, die Aufregung um diesbezügliche Äußerungen - etwa eines lstvän Csurka - ist groß. GÖNCZ: Ich möchte hier genau formulieren. Es gibt in Ungarn einen Antisemitismus, aber Ungarn ist nicht antisemitisch. Überrascht hat mich allerdings auch, daß am selben Tage wie in Deutschland auch in Großbritannien und in Frankreich Judenfriedhöfe geschändet wurden.

FURCHE: Man kann in den Ländern Mittelosteuropas, auch in Ungarn, eine Art politischen Rechtsruck beobachten, wie bewerten Sie das?

GÖNCZ: Nach einer langen diktatorischen Herrschaft, die sich als links bezeichnete, werden gewisse Tendenzen eines Rechtsrucks verständlich. In allen sozialistischen Nachfolgestaaten ist am Rande zu beobachten, daß jene Kräfte, die den Wandel herbeigeführt haben -und das waren zweifelsohne Mitte-Links-Kräfte -, jetzt in den Mittelpunkt von Angriffen geraten sind, weil Kräfte zur Geltung kommen wollen, die sich rechts angesiedelt haben. Hinsichtlich Ungarn bin ich angenehm überrascht und fasziniert, wie aufrichtig und entschlossen die ungarische Gesellschaft das von sich weist. Nicht selten habe ich den Eindruck, daß die ungarische Gesellschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert absolut modern zu denken fähig ist. Gleichzeitig sind in der Politik aber Neigungen zu entdecken, die dem 19. Jahrhundert entstammen. Aber das ist t keine ungarische Eigenheit.

FURCHE: Ungarn hat in der sogenannten Visegrader Trias - Polen, CSFR, Ungarn - ein Programm der Zusammenarbeit in Mitteleuropa entwickelt. Ist das auch Ihre politische Perspektive?

GÖNCZ: Das hat sich aus der Ähnlichkeit der historischen Lage ergeben und aus der Notwendigkeit der Stunde. Aber nach dem Zerfall der Sowjetunion und derOstmärkte müßte man sich auch an den Westen wenden, müßte man die Marktwirtschaft ausbauen, wonach man sich immer gesehnt hat. Diese drei mitteleuropäischen Länder, die sich vom sowjetischen Joch befreit haben, versuchen, einander auf diesem Weg zu unterstützen oder sich wenigstens nicht gegenseitig zu behindern. Und selbstverständlich erfordert ihr Interesse die Wiederbelebung der wirtschaftlichen

Beziehungen, die sich auf einem niedrigen Niveau befinden - ohne die Idee aufzugeben, auch die Wirtschaftsbeziehungen zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wiederzubeleben.

Selbstverständlich sind wir auch hier an der Konstruktion bester Beziehungen interessiert, es darf ja kein Loch entstehen und es wird kein Loch entstehen in der Region östlich von Ungarn. Wir müssen ein ausbalanciertes Verhältnis auch zu diesen Staaten anstreben.

Im übrigen bin ich überzeugt, daß der Weg zur Einheit Europas über die regionale Zusammenarbeit führt. Und das, was man heute Mitteleuropäische Initiative nennt, das hat selbstverständlich eine jahrhundertealte Tradition: einerseits gehört das bereits zum Selbstverständnis, andererseits ist es eine heute notwendige Initiative.

FURCHE: Also mehr als Nostalgie?..

GÖNCZ: Das ist ja Jahrhunderte alt. Dafür braucht man keine Verträge. Wenn Ungarn eine Grenze hat im westlichen Sinn, dann ist das die Grenze zu Österreich. Hier hat sich verwirklicht, daß die Grenze nicht trennt, sondern verbindet.

FURCHE: Früher hießt es in Ungarn, man wolle über Osterreich in die EG, quasi als neutrales Land. Heute ist die Situation anders, auch

für Österreich. Neutralität ist nicht mehr gefragt. Wandern wir also gemeinsam in die NATO? Ungarn betreibt dies doch sehr stark.

GÖNCZ: Ich hoffe, daß wir uns auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäischen Sicherheitssystem befinden. Ich hoffe auch, daß die NATO davon nicht ausgeschlossen bleibt. Denn Europa kann ja ohne die USA nichtexistieren. Auch dann nicht, wenn es sich wirtschaftlich gesehen um Konkurrenten handelt.

FURCHE: Sind wir nicht zu weit von der kollektiven Sicherheit entfernt: siehe EG und Jugoslawien?

GÖNCZ: Ich wage keine Prognosen. Aber von 1989 bis 1992 hat es in Mitteleuropa mehr unerwartete Ereignisse gegeben als von 1948 bis 1989.

FURCHE: Ist der Wandlungsprozeß Osteuropas unumkehrbar?

GÖNCZ: Absolut. Der Nationalismus und kriegerische Konflikte sind Phänomene und Kräfte der Vergangenheit. Ob wir wollen oder nicht, die Zeit schreitete voran. Im übrigen hoffe ich, daß die Sicherheitsinteressen Europas nicht nur auf den militärischen Bereich beschränkt bleiben, sondern auch im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte Folgen haben werden.

Mit dem ungarischen Staatsoberhaupt Arpäd Göncz sprach Franz Gansrigier.

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