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Bei Entscheidungen oft überfordert

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Es darf wohl der Frage nachgegangen werden, ob das, was Erziehungswissenschaft und Schulgesetz gebracht haben, wirklich so eitel Glück und Wonne für das Kind bedeuten.

Vielleicht klagt man mit gewissem Recht, daß Stoffülle und Lemquanti- tät den Schüler erdrücken. Manchmal wird sogar der Verdacht laut, daß Lehrer die Prüfung als eine Art Disziplinarmittel benützen. Sie brächten damit die Schüler zur Räson. Kein Zweifel, daß darunter die Schüler leiden und daß sich dadurch Schulangst und Schulverdrossenheit einstellen.

Wieweit kann man hieraus aber den Lehrern einen Vorwurf machen? Disziplin ist die Voraussetzung jeder schulischen Tätigkeit. Um Ordnung herzustellen, erlaubt man dem Lehrer vom Gesetz her Lob, Ermahnung und Zurechtweisung. Diese Mittel sind edel und schön, so wie es sich für ein Utopia-Ideal geziemt. Man möge uns aber eine Gesellschaftsordnung nennen, die mit diesen Mitteln allein alle Mitglieder zu gesellschaftsadäquatem Handeln bringt.

Auch der Lehrer kommt nur in höchst glücklichen Konstellationen damit aus. Der Gesetzgeber hat wohl ein hehres Gesetz geschaffen, hat aber verabsäumt, dem Lehrer die entsprechenden Schüler mitzuliefern, auf daß jene das Gesetz auch erfüllen können. Da man offensichtlich vom Lehrer als Person Wunder erwartet, die er nicht wirken kann, bleibt ihm nur der Weg ins Sachliche, in die objektive Arbeit, die den Schüler „nicht auf dumme Gedanken“ kommen läßt.

Der Lehrer muß jede Beurteilung des Schülers belegen können. Seine subjektive Kenntnis der Leistungsfähigkeit eines Schülers genügt nicht mehr, seiner Aussage allein traut man nicht mehr. Dieses Faktum ist dazu angetan, die Zahl der schriftlichen Tests und Beweismittel zu vermehren.

Der Gesetzgeber meinte, den Schülern etwas Gutes zu tun und der Lehrerwillkür Einhalt zu gebieten, wenn Tests und Prüfungen angekündigt werden müssen, und zwar eine bestimmte Zeitspanne vor dem Termin.

Früher mußte der Schüler jede Stunde damit rechnen, aufgerufen zu werden. Man hatte also stets auf dem Laufenden zu sein. Erfüllte man diese Voraussetzung, so konnte man außerdem dem weiteren Unterricht mit Verständnis folgen und auf der gesicherten Grundlage Schicht für Schicht aufbauen.

Heute bereitet sich der Schüler höchstens an den beiden vorhergehenden Tagen auf die Prüfung vor; er wälzt einen ganzen Wust von Kenntnissen kurzfristig in sein Him. Nach der Prüfung ist alles ebenso schnell wieder vergessen.

Die Prüfung hat die Funktion eines Scheinwerfers; das Wissen wird für einen kurzen Augenblick beleuchtet, dann verschwindet es wieder im Dunkeln. Mein lernt heute ausschließlicher für die Prüfung als früher.

Außerdem kann der weitere Unterricht schwer auf vergessenem Wissen aufbauen. Dem Schüler wird das Folgende unklar bleiben. Das löst Unbehagen aus, denn der Schüler fühlt, daß hier etwas schief läuft. Man kann ihm aber nicht zumuten, daß er aus eigener Kraft aus diesem Dilemma herausfindet.

Schließlich wären auch sauber geführte Hefte eine gute Lernhilfe. Übersichtlich angeordneter Merkstoff erleichtert das Einprägen, saubere Schrift vermindert Fehlerquellen. Ein gefälliges Heft wird gerne aufgeschlagen und hergezeigt.

Um dies zu erreichen, muß der Lehrer einen entnervenden Kampf führen. Da er aber keinen Zwang ausüben soll, um die Schüler nicht zu „frustrieren“, gibt er bald auf.

Die Unordnung bei den Schulrequisiten, Büchern, Heften, Turnsachen, Zeichengeräten ist oft erstaunlich. Die Schüler vergessen, verlieren und vermurksen die Dinge, die sie in der Schule brauchen. Mancher Schüler drückt seinen Freiheitsdrang in hemmungsloser Schmiererei aus. Daß den Schüler dann die Schule verdrießt, wenn er keine ansprechenden Produkte nach Hause bringt, ist natürlich.

Nicht immer hat das Zurücktreten des Lehrers und die Demokratisierung wünschenswerten Folgen. Es gibt subtile Machtkämpfe in der Klasse, Entscheidungsprozesse, wer das Sagen hat, und oft fühlen sich sensible Schüler durch ihre robusteren Mitschüler mehr bedrängt als je durch einen Lehrer.

Unruhe und Disziplinlosigkeit der Klasse strapazieren nicht nur die Nerven des Lehrers, sondern auch die Nerven der lemwilligen Schüler. Auf die Bekehrung der lästigen Störer durch Ermahnung und deren eigene Einsicht zu hoffen, heißt, das Schicksal der Klasse in die Hand dieser Schüler zu legen, sehr zum Nachteil der übrigen. Die Schüler, die dem Lehrer das Leben schwer machen, machen es auch den Mitschülern schwer.

Schließlich hat auch die frühe Hinführung zu Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ihre Schattenseiten. Durch die Eigenverantwortlichkeit werden dem Menschen ständig Entscheidungen abverlangt. Ist das aber wirklich immer erstrebenswert? Entscheidungen treffen, ist vor allem Sache einer reifen Persönlichkeit, denn zur Entscheidung gehört auch die Verantwortung. Gehorchen kann eine Entlastung sein.

Wir aber verlangen unseren jungen Menschen ständig Entscheidungen ab, ohne ihnen die Wohltat des Gehorsams zu gönnen. Wir glauben, das Verlangen von Gehorsam sei ein repressiver Akt, und übersehen dabei, daß die Verantwortung etwas Bedrückendes ist, wenn man ihr nicht gewachsen ist.

Der junge Mensch muß heute ununterbrochen zwischen Alternativen wählen, ohne die nötigen Grundlagen zu besitzen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Aufforderung zur Wahl der Lerninhalte, der Art des Unterrichtes, der selbständigen Erwerbung des Lehrstoffes eine Überforderung dar. Die Haltung des Schülers demgegenüber ist ambivalent. Einerseits erhofft er sich von der Wahlmöglichkeit mehr Freiheit (verbunden mit weniger Anstengung), andererseits fühlt er sich, Oft unbewußt, dem allen nicht gewachsen. Er empfindet die Schule als etwas, das seinen Voraussetzungen nicht entspricht, und er reagiert mit Überdruß.

(Die Autorin ist Hauptschullehrerin in Rohrbach, OO. Bisherige Beiträge in dieser Reihe erschienen in den Nummern 29, 41 und 42 der FURCHE.)

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