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Digital In Arbeit

Bei jeder Lohn welle lauert die Inflation

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Die Besserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten ist offenkundig. Aber aus welchen Quellen wurde sie gespeist? Ist sie nur den Fortschritten der Technik, der anhaltenden Konjunktur und Vollbeschäftigung zu danken oder hat eine soziale Umwälzung stattgefunden, ist es den Unselbständigen gelungen, sich auf Kosten der Selbständigen ein größeres Stück vom Kuchen des Sozialproduktes abzuschneiden?

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Die Besserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten ist offenkundig. Aber aus welchen Quellen wurde sie gespeist? Ist sie nur den Fortschritten der Technik, der anhaltenden Konjunktur und Vollbeschäftigung zu danken oder hat eine soziale Umwälzung stattgefunden, ist es den Unselbständigen gelungen, sich auf Kosten der Selbständigen ein größeres Stück vom Kuchen des Sozialproduktes abzuschneiden?

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Mit dieser Frage besdiäftigt sich auch die Wiener Arbeiterkammer über die Periode von 1913 big 1967. Es wird zunächst sdieinibar eine kräftige Umverteilumg zugunsten der Arbeitnehmer festgestellt: die Lohn-quote, also der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen, ist von 51 Prozent im Jahre 1913 auf mehr als 67 Prozent 1967 gestiegen.

Aber statistisdie Daten führen, aus dem größeren Zusammenhang gerissen, leidit irre. Es hat sich nicht nur die Lohnquote, sondern auch die Beschäftigtenquote (der Anteil der Unselbständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen) versdioben. 1913 waren erst 64 Prozent der Erwerbstätigen Arbeitnehmer, 1967 dagegen schon 73 Prozent. Die höhere Lohnquote verteilt sich also auf mehr Menschen; immerhin ist aber die Lohnquote fast doppelt so stark gestiegen wie die Beschäftigtenquote.

Die Glotoallohnquote machte von 1913 bis 1924 einen Sprung um 6 Prozentpunkte, stieg aber in den weiteren 43 Jahren nur ganz allmählidi um weitere zehn Punkte. Ganz anders verlief die Besdiäfti’gten-quote: bei ihr gibt es keinen „ahkriegssprung”, sondern sie blieb (von kurzfristigen Schwankungen um die Hauptachse abgesehen) bis zu Beginn der fünfziger Jahre gleich; erst seither steigt sie infolge der damals ein-setzendöi Abwanderung aus den selbstäiidigen Berufen ziiemJlch stetig.

Und nun die überraschende Resultante aus diesen beiden verschieden-läufigen Komponenten: die Lohnquote je Arbeitnehmer weist einen noch stärkeren Nachkriegssprung als die Globallohnquote auf (9 Prozent) und — blieb seither auf ungefähr gleicher Höhe. Nur die Vernichtung von Substanz und Ertrag vieler Vermögen in der großen Inflation erhöhte den relativen Lebensstandard der Uniselbständigen (aber nicht den absoluten, denn die Verarmung vieler Selbständiger brachte damals den Arbeitnehmern kein Mehr, sondern auch eher ein Weniger an Wohlstand); seither kam es hingegen zu keinen dauerhaften Verschiebungen, sondern nur zu flüchtigen Schwankungen.

Diese Schwankungen sind aber nicht struktur-, sondern konjunkturbedingt, sie sagen über die wirtschaftliche Lage der Lohn- und Gehaltsempfänger nichts aus. Entspräche der relative Lebensstandard dem absoluten, dann wäre es den Unselbständigen im Notjahr 1931 am besten, im Wahlstandsjahr 1960 am schlechtesten gegangen; denn 1931 hatte die Pro-Kopf-Lohncjuote die stolze Höhe von 98 Prozent erreicht, wogegen sie 1960 auf schäbige 85 Prozent, den niedrigsten Hundertsatz seit 1913, abgesunken war.

Hier zeigt sich besonders deutlich, daß Zahlen an sich keinen Aussagewert haben, sondern diesen erst im größeren, richtig gesehenen Zusammenhang gewinnen. Die schlichte Wahrheit ist: 1931 gingen die Geschäfte so schlecht, daß der durchschnittliche Unselbständige (sofeme er nicht arbeitslos war) fast genauso-viel verdiente wie der durchschnittliche Selbständige; 1960 waren die Untemehmereinkommen ein wenig über das sonst konjunkturübdiche Ausmaß vorausgeeilt. Als Faustregel gilt nämlich, daß im Aufschwung der Gewinn-, im Abschwung der Lohnanteil steigt; aber das pendelt sich wieder ein. Langfristig, daran ist nicht zu rütteln, ist die Lohnquote seit Ende des ersten Weltkrieges gleichgeblieben.

Das ist keine österreichische Sonder erscheinung, sondern gilt so ziemlich für alle westlichen Industrieländer, weitgehend unabhängig von ihrer Innenpolitischen Konstellation.

Die Einkommensumverfceilung zugunsten der Arbeitnehmer, die nicht bloß eine Forderung der Sozialisten, sondern auch der christlichen, liberalen und konservativen Sozialreformer ist, hat also, trotz heftigen Anstrengungen in diese Richtung, nicht stattgefunden.

Der Ritter, den es nidit gibt

Es ist das bittere Los des Exegeten von Statistiken, den Glauben an diese erschüttern, ihren Gläubigen das Gift des Zweifels in die Gehirne träuieln zu müssen; darum kommt der Exeget auch bei der Einkommenszurechnung an Arbeitnehmer und Unternehmer nicht henun.

Die Bedenken setzen schon bei der EinteUiung in Albeit- und Kapitaleinkommen ein, weil jene kurzerhand mit den Löhnen und Gehältern gleichgesetzt werden, diese aber mit allen übrigen Einkommensarten, angefangen von den Verdiensten der nicht gerade auf der faulen Haut liegenden Bauern und Gewerbetreibenden bis zu den Erträgnissen aus Wertpapieren.

Das weiß auch die Arbeiterkammer und versucht deshalb gelegentlich eine nicht ganz-ü(b«re«lige!niae Trennung der eigentlichen Kapitaleinkommen von den Arbeitseinkommen der Selbständigen. Es erstaunt daher, wenn es an anderer Stelle von den unselbständigen und selbständigen Einkommen mit klassenkämpferischem Zungenschlag heißt: „Nicht von ungefähr unterscheidet man In manchen Ländern zwischen .verdientem’ und .unverdientem’ Einkommen.”

In anderem Zusammenhang weist die Arbeiterkammer selbst darauf hin. daß die Enspamisse der Arbeitnehmer einen wachsenden Beitrag zur Finanzierung der Investitionen liefern. Es gibt also wahrscheinlich mehr Umverteilung zwischen Selbständigen und Unselbständigen, als unsere statistische Weisheit sich träumen läßt.

Da ist noch ein weiterer heikler Piuiikt, bei dem man unwillkürlich an Italo Calvinos köstlichen Roman „Der Ritter, den es nicht gab” denken muß. jenen Ritter, der zwar überall in Erscheinung tritt und von dem alles spricht, der aber in Wirklichkeit nichts als eine leere Rüstung ist. Ein solcher Ritter, den es nicht gibt, ist auch der Herr Durchschnitt der Statistik, jenes fast franken-steinische Gebilde aus Hilfsarbeiter und Generaldirektor, beziehungsweise Flickschuster und Konzernherren samt allen Zwischenstufen; und dieser Geschmack von Künstlichkeit haftet auch dem Pro-Kopf-Einkommen an.

Nur ein Beispiel: Die Abwanderung aus den selbständigen Berufen, die in den fünfziger Jahren einsetzte, ergab sich gottlob vorwiegend nicht aus wirtschaftlichen Zusammenbrüchen und menschlichen Tragödien, sondern einfach daraus, daß sich der landwirtschaftliche und gewerbliche Kleinbetrieb zwar als krisen-, nicht aber als wohlstandsfest erwiesen hat: das Dasein der Arbeitnehmer (gerade in den unteren Rängen) wird durch Massenwohlstand und Mechanisierung immer leichter, sorgenfreier und daher anziehender, so daß die Kleinunternehmer (oder zaim mindesten ihre Söhne) dafür gerne die früher so viel gepriesene Selbständigkeit aufgeben; dadurch entfallen die niedrigen Kapitaleinkommen kurzerhand und der Durchschnitt verschiebt sich nach cjfoen. ohne daß des-

halb sdion die mittleren und höheren Einkunft« gestiegen wären. Statistiken sind nicht Selbstzweck (oder sollen es nicht sein), sondern sind dazu da. daß man aus ihnen etwas ableite; aber da beginnen sofort die Meinungsverschiedenheiten. Fest steht nur. daß die Umverteilung nicht stattgefunden hat Das Warum läßt sich verschieden deuten. Für die Gewerkschaften ist die Antwort ganz einfach: Die Lohnforderungen sind zu bescheiden; sie reichen gerade dazu aus, um langfristig den Arbeitnehmern ihren Anteil am wachsenden Volkseinkommen zu sichern und eine Umverteilung zu ihren Ungunsten zu verhindern, nicht aber um eine solche zu ihren Gunsten herbeizuführen. Um das zu ändern, steigen auch in den letzten Jahren fast weltweit die Forderungssätze; mit der Bescheidenheit soll endlich Schluß und mit der Umverteilung Ernst gemacht werden.

In der Untersuchung der Arbeiterkammer wird zwar diese Schlußfolgerung nicht rundweg ausgesprochen, aber unter anderem durch einen Vergleich zwischen Löhnen und Investitionen nahegelegt: der Hauipteinwand der Unternehmer gegen Lohnerhöhungen ist bekanntlich, daß Gewinnschmälerungen aiif Kosten der Investitionen und damit des wirtschaftlichen Fortschrittes gehen. Eine Gegenüberstellung von Lohnquote und Investitionsrate sowohl in der Zwischemkriegszelt als auch in der Nachkriegszeit läßt aber eine gegenläufige Entwicädung der beiden Zahlenreihen nicht erkennen. Die Aift>eiterkammer meint, daß die Lcjhnforderungen ruhig ein wenig höher sein könnten; auf genauere Angaben über das mögliche Ausmaß läßt man sich nicht ein, was den Vorteil hat. von wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit zu zeugen und zugleich den Praktikern uneingeschränkten Ermessensspielraum zu gewähren.

Freilich läßt sich manche« gegen die Beweisführung der Arbeiterkammer einwenden: so etwa, daß Löhne und Investitionen zwei willkürlich herausgegriffene Paktoren seien, die man im größeren Zusammenhang sehen müsse; daß es nicht genüge, nur die aus Steuermitteln gespeisten öffentlichen Investitionen auszuklammern, sondern daß ein gleiches auch bei den auf verschiedenen Wegen finanzierten Großvorhaben und bei den vornehmlich mit ausländischem Kapital erfolgten Neugründungen erfolgen müsse, um ein zuverlässiges Bild über die Beziehungen zwischen Lohn und Investitionen zu gewinnen; und schließlich, daß Lohnforderungen je nach Gegebenheit verschiedene Wirkungen haben.

Lohnforderungen können sowohl investitionshemmend als auch investitionsneutral und sogar investi-tionsfördemd wirken (etwa indem sie die Unternehmer zu schärferer Wettbewerbsfähigkeit zwingen). Aber auch die Untemöbmer haben für das Ausbleiben der Umverteilung eine Eridärung in ihrem Sinne: es handle sich, so meinen sie, hier gewissermaßen vm ein ehernes Verteilungsgesetz, das auch noch so heftige Lohnkämpfe auf die Dauer nicht aulhelben könnten. Zugunsten der Unternehmer kann auch die statistische Tatsache ausgelegt werden, daß die Pro-Kopf-Lohnquoten nie höher waren als in der Zeit der WirtschaftsdepressiCMV, der Massenart eitslosigkeit und der Hungerlöhne, dagegen nie niedriger als während des stürmischen Wirtschaftsaufschwunges ab Mitte der fünfziger und anfangs der sechziger Jahre, als die Vollbeschäftigung erreicht wurde und der Wohlstand der Arbeitnehmer sprunghaft zunahm. Man könnte daraus reht überzeugend die Faustregel ableiten, daß es dem Artieitnehmer um so besser gehe, je reicher der Unternehmer würde. Hätten die Kapitalisten nur halb so gute Propagandisten und halb so viele willfährige Intellektuelle wie die Kommunisten, so gälte gewiß ihr wachsender Reichtum als im wohlverstandenen Allgemeininteresse gelegen; in der Arbeiterschaft würde eitel Jubel über jeden neuen Rolls-Royce herrschen, dai sich der Chef anschafft.

Selbstverständlich wären solche Schlußfolgerungen ebenso ..terribles simplifications” wie die investitionsneutralen Lohnerhöhungen; die Wirklichkeit ist auch hier verzwickter.

So etwa hat die kommunistische „Volksstimme” aus der gleichen Statistik herausgelesen, daß in Streikjahren die Lohnquote am stärksten hinaufschnellte, womit für sie eindeutig bewiesen ist, daß nur Arbeltskämpfe (je härter, desto besser) die Umverteilung bewirken können. Solche Erfolge (dafür gibt es Beispiele genug) gehen aber in den Folgejahren immer sehr rasch und gründlich verloren, erst recht dann, wenn die Arbeitskämpfe, womöglich mit immer höheren Forderungen, jahrelang fortgesetzt werden; niemand leidet darunter mehr als der Arbeitnehmer, nichts ist besser geeignet, seinen Lebensstandard sinken zu lassen.

Dem unvoreingenommenen Betrachter der Lohnanteilstatistik drängt sich dagegen eine ganz andere, sehr ketzerische Frage auf: Sind Lohnbewegungen überhaupt ein taugliches Werkzeug für die Umverteilung?

Man braucht nicht gleich so weit zu gehen, um etwa aus der statistischen Tatsache, daß es In Zeiten ohne Lohnbewegungen und Gewerkschaften hohe Lohnquoten, in solchen mit starken, kampflustigen Gewerkschaften und häufl/gen, hohen Lohnwellen niedrige Quoten gab, eine negative Wechselwirkung zwischen Gewerkschaft und Arbeitskampf einerseits und Lohnquote anderseits ablesen ziu wollen. Aber daß Lohneihöhungen (außerösterreichische Beispiele zeigen das noch deutticher) nur in den seltensten Fällen eine Umverteilung bewirken, auch wenn sie noch so sehr darauf angelegt sind, ist nun einmal nicht von der Hand zu weisen. Mit Bescheidenheit hat das gar nichts zu tun; im Gegenteil, je unibescheidener die Forderungen werden, um so weniger umverteilungswirksam sind sie, es sei denn um den Preis des wirtschaftllchn Zusammenbruches und der Verammmg der Unternehmer. Doch damit ist dem Arbeitnehmer am wenigsten gedient. Gerade wenn wir den Unternehmer-Standpunkt vom „ehernen Vertei-lungsigesetz” nicht teilen wollen, müssen wir nach einer logischen Erklärung für diese empirische Tatsache suchen. Sie liegt offenkundig darin, daß bed jeder Lohnwelle die Inflation im Hintergrund lauert und um so univerfrorener nach vorne drängt, je höher die Forderungen sind und je weniger sie dem Leistungswachstum der Wirtschaft entsprechen.

Starke Lohnerhöhungen schaffen ein inflationäres Klima, das es den Unternehmern erleichtert, Kosten-steigerungen auf die Preise zu überwälzen und die Umverteilung zunichte zu machen. Es ist daher nicht bloß eine fromme Mär, daß meist bescheidene Lohnaufbesserungen realeinkommenswirksamer sind und noch eher umverteilungsmäßig „greifen” als hohe Sätze.

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