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Beichtspiegel für Politiker

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Hat heutige Politik - noch -mit Moral zu tun? Die Dringlichkeit dieser Frage ist evident. Was Politiker und ihre Kritiker bedenken sollten, sagt ein soeben erschienenes Buch.

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Hat heutige Politik - noch -mit Moral zu tun? Die Dringlichkeit dieser Frage ist evident. Was Politiker und ihre Kritiker bedenken sollten, sagt ein soeben erschienenes Buch.

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Die Medien berichten fast tagtäglich von Skandalen, und wenn sich bei einem Untersuchungsrichter drei ehemalige Regierungs-' mitglieder einfinden, überwiegt wie in vielen anderen Fällen in der öffentlichen Meinung die Schuldvermutung die Unschuldsvermutung.

Valentin Zsifkovits, Vorstand des Instituts für Ethik und Sozialwissenschaft an der Universität Graz, hat das heiße Eisen dieser Frage angefaßt und hat der Versuchung widerstanden, den öffentlichen Ankläger zu spielen.

Schon in der Einleitung zu seinem Buch mit der Titel-Frage „Politik ohne Moral?“ distanziert er sich von der Heuchelei der Vorstellung, unsere Gesellschaft sei nur oben bei den Politikern ohne Moral, während weiter unten alles in bester Ordnung sei. Wenn auch der Satz, daß „das Volk jene Politiker hat, die es verdient“, in unserer Demokratie nicht uneingeschränkt gilt, weil Regierungsmitglieder und selbst Abgeordnete ja nicht persönlich gewählt werden, haben doch nicht nur die Gewählten, sondern auch die Wähler über die „Tatsachenfrage“, was denn die wahrnehmbare Politik mit Moral zu tun habe, hinaus sich die „Sollensfrage“ vorzulegen, was denn die von ihnen gewünschte Politik mit Moni zu tun haben sollte.

Im Hauptteil seines Buches macht er dem Leser die Spannungsfelder zwischen „Partikularinteressen“ und „Gemeinwohl“, zwischen „Macht“ und „Freiheit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Liebe und Frieden“, zwischen „Erfolg“ und „Gewissen“, zwischen „Feindbildern“ und „Brüderlichkeit“, zwischen „Grenzmoral“ und „Idealmoral“, zwischen „Lüge“ und „Wahrheit“, zwischen „Sensation“ und „Seriosität“, zwischen „System-treue“ und „Person“, zwischen „materiellen Gutem“ und „immateriellen Werten“, zwischen der „Wirklichkeit des Lebens“ und den „Normen der Ethik“ bewußt. Und das nicht nur durch grundsätzliche Überlegungen, sondern auch an Hand von zahlreichen Beispielen aus der Praxis des Verhaltens von Politikern und jener, die sie kritisieren, obwohl sie sich im kleineren Maßstab oft nicht unähnlich verhalten.

Er legt damit eine Art checklist -um nicht zu sagen Beichtspiegel -zur selbstkritischen Überprüfung des eigenen Verhaltens vor, wohl wissend, daß eine „der Wirklichkeit des politischen Lebens gerecht“ werdende Ethik „neben hohen Zielimperativen auch realitätsgemäße Stufenimperative als Weg zu diesen hohen Zielen enthalten“ muß. Was der Autor über die „Brüderlichkeit als Leitbild der Politik“ schreibt, nämlich sie sei eine „Utopie, aber eine schöpferische und positive“, gilt auch von der Demokratie.

Ihr Mehrheitsprinzip als Steuerungsinstanz ist zwar in der pluralistischen Gesellschaft nicht dek-kungsgleich mit Moral, aber alle ihre Kontrollinstanzen - öffentliche Kritik, Opposition, freie Wahlen, Rechnungshofberichte, parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Urteile unabhängiger Gerichte - dienen nicht zuletzt dem Zweck, die Verletzung von Normen wenn schon nicht zu verhindern, so doch aufzudecken und zu ahnden.

Allein schon deshalb wären diesem Buch möglichst viele Leser zu wünschen, weil es zu der Schlußfolgerung zwingt, daß höhere moralische Anforderungen, die wir an uns selbst und an die Politiker stellen, als mehrheitliches Steuerungsprinzip so manches vermeiden könnten, was wir beklagen und womit wir unsere Politikverdrossenheit begründen.

Von der Vielzahl der mitten aus unserer politischen Wirklichkeit gegriffenen Hinweise können hier nur einige Beispiele genannt werden. So die noch weniger „bewußtseinspräsente egoistische Verkürzung“ von Gemeinwohlinteressen durch jene „temporärer Art“: im Klartext „die Ausbeutung und Belastung der Natur“ und „die Verschuldung des Staates auf Kosten künftiger Generationen“. Wie oft geraten wir doch in „soziale Fallen“, weil die Hochrechnung eines „kurzfristig rationalen, egoistischen Handelns“ einzelner einen Nachteil für die Gemeinschaft ergibt.

Es müssen sich aber auch „genügend qualifizierte Männer und Frauen für die politische Arbeit... zur Verfügung stellen... Man muß gerade jungen Menschen Mut machen, sich in der Politik vielleicht wunde Hände zu holen... Das böse Schlagwort, Politik verderbe den Charakter, ist dahingehend zu entgiften und zu korrigieren, daß Politik einen starken Charakter erfordere“. Und für eine „Verbesserung der moralischen Substanz... der Politik“ ist es wichtig, „christliches Orientierungswissen... für die Politik zu mobilisieren.“

Ein Jahr vor dem Wahljahr 1990 ist auch besonders aktuell, was über „Lüge und Wahrheit“ gesagt wird. Neben der „Notlüge“ verdient hier die „verleumderische Schadenlüge“, die „versprechende Werbelüge“ und die Lüge in Form der großen Kluft zwischen „der politischen Rede und der Tat“ erhöhte Aufmerksamkeit. Freilich wird die „Wahrhaftigkeit in der Politik nur dann eine Chance bekommen, wenn sie auch im Alltag der Menschenmehr Raumgewinnt.“

Scharf wendet sich der Autor gegen den Versuch, nach dem Motto „Dies war allgemein üblich“ die „Ethik der Faktizität der Praxis auszuliefern“. Er wendet sich deshalb auch gegen die von W. Becker vorgenommene Unterscheidung zwischen der „Moral im klassischen Sinn“ und der „politischen“ Ethik, „weil damit die politische Ethik aus dem Verantwortungsbereich sonst allgemein moralischer Grundsätze entlassen zu werden droht“. Auch in Max Webers Unterscheidung zwischen einer „Gesinnungs-“ und einer „Verantwortungsethik“ vermag er „sinnvollerweise nur Akzentuierungen“ zu sehen, „weil eine Verantwortung einer entsprechenden Gesinnung bedarf und weil eine richtige Gesinnung auch den Blick auf die Folgen zu richten hat“.

In abschließenden Bemerkungen versucht der Autor, „in bezug auf die zehn Spannungsfelder zehn Gebote zu formulieren“, die der ethischen Reflexion als zwangsläufig allgemeiner Einstieg dienen. Wer im konkreten Fall einer Orientierung bedarf, braucht nur zurückzu-blättem und wird ab Politiker oder als ein den politischen Prozeß Mitsteuernder noch zusätzliche Anregungen finden, obwohl, wie der Autor zum Schluß betont, mit diesem Buch keine „umfassende politische Ethik“ vorgelegt wird.

„Für eine solche müßte man wichtige politische Problemfelder näher diskutieren“, darunter auch „Christ und Politik beziehungsweise Kirche und Politik, wobei beim letzten Thema auch die innerkirchliche politische Moral ein besonders brisantes Thema wäre.“

Der Autor ist Journalist und Sdiriftsteller.

POLITIK OHNE MORAL? Von Valentin Zsifkovits. Verlag Verität, Linz 1989. (Sozial Perspektiven Band 6) 136 Seiten, öS 198,-.

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