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Beim Wortschwall genommen...

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Fritz Herrmann ist einen Gang auf Klinge und Scheide wert, wie es bei Shakespeare heißt. Wphl ist er für die Kulturpolitik der SPÖ (noch) nicht repräsentativ, aber er ist immerhin der erste kulturpolitische Berater des sozialistischen Unterrichtsministers. Und wer nicht weiß, wer Erzbischof Benelli ist, oder wer Leo Bauer war, braucht nur den Film „Der Pate“ anzusehen, um zu erfahren, welche Rolle der Zufall oft einem Con-sigliere in geschlossenen Gesellschaften anvertraut.

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Fritz Herrmann ist einen Gang auf Klinge und Scheide wert, wie es bei Shakespeare heißt. Wphl ist er für die Kulturpolitik der SPÖ (noch) nicht repräsentativ, aber er ist immerhin der erste kulturpolitische Berater des sozialistischen Unterrichtsministers. Und wer nicht weiß, wer Erzbischof Benelli ist, oder wer Leo Bauer war, braucht nur den Film „Der Pate“ anzusehen, um zu erfahren, welche Rolle der Zufall oft einem Con-sigliere in geschlossenen Gesellschaften anvertraut.

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Dabei ist Herrmann gar nicht leicht zu fassen. Indem er in keinem Punkte seines Artikels ernsthaft versucht, die Begriffe „Kultur“ und „Sozialismus“ zu definieren, verhindert er das Beziehen einer Gegenposition. So muß man ihn beim Wortschwall nehmen und am Detail aufzeigen, was dieser verdeckt. Erstens, daß Herrmann sicher nicht ein Wortführer der Neuen Linken ist, aber ihr nach dem Munde redet. Und zweitens, was er mit der für diese Neue Linke typischen Überheblichkeit offenbar voraussetzt: Während der Sozialist durch Studium sich das Rüstzeug für dialektische Auseinandersetzungen aneignet, verdummt sein nichtsozialistischer Widerpart teils beim Golf und teils beim Rosenkranz, so daß man ihm erzählen kann, was immer man so will.

Auf ins Detail also.

I.

„Zum Unterschied von der De-skriptionsfreundlichkeit gehabter Kulturen, etwa der auf Unterdrückung aufgebauten altgriechischen Sklavenhaltergesellschaft...“

Aber, aber. Wodurch unterscheidet sich denn die altgriechische Kultur von den anderen Hochkulturen des Altertums in gesellschaftlicher Hinsicht? Dadurch, daß sie, als die einzige, keine Sklavenhaltergesellschaft war. Massensklaverei war iit Sparta wie in Athen unbekannt, wiewohl es Sklaven gab, und zwar zumeist „auf Zeit“. Diese Sklaverei spielte sich aber ausschließlich im patriarchalischen Familienverband ab, der Stellung lebenslänglicher Dienstleute bei der österreichischen Hocharistokratie im vergangenen Jahrhundert vergleichbar. Nur, daß die altgriechischen Sklaven, zum Unterschied von jenen, die gleiche Bildung genossen wie ihre Herren, und nach dem Tode des Familienoberhauptes erbberechtigt waren.

(Aber, selbst wenn es anders gewesen wäre: wozu insinuieren, daß die kulturelle Blüte des alten Hellas auf der Unterdrückung der arbeitenden Bevölkerung beruhte? Es ist nicht nur ein Nonsens, das Vokabular der Industriegesellschaft auf vorchristliche Kulturen anzuwenden, es ist unzulässig, soziale Verhältnisse aus dem kulturellen Gesamtzusammenhang herauszubrechen und zum Tragpfeiler der Kultur zu erklären. Nicht, weil es in Ägypten Sklaverei gab, wurden die Pyramiden gebaut, und nicht, weil Pyramiden gebaut wurden, wurden die Nu-bier von den Ägyptern versklavt. Die Pyramiden wurden gebaut, weil die Ägypter an die Himmelfahrt des Königs glaubten. Hätte es keine Sklaven gegeben, hätten diese Könige für die Erbauung der Pyramiden ihr letztes Goldstück hergegeben.)

„...wie ... eine totale Humanität ausmalen inmitten der heutigen Weltkultur, die das Umpflügen von Städten durch amerikanische B-52-Bomber achselzuckend, und die Inhaftierung aufmuckender sowjetischer Intellektueller — ein kleiner dimensioniertes Verbrechen, wenn auch ein großes — leicht ärgerlich registriert?“ , .

Abgesehen davon, daß dieser Vergleich Verdacht erweckt (Leitfaden der RotZök — Rote Zelle Ökonomie der Freien Universität Berlin: „Wenn du bei deinem Gesprächspartner antisowjetische Gedanken-•gänge errätst, verhindere jede Diskussion über die Besetzung der

CSSR, indem du von dir aus Sin-jawskij und Daniel zur Sprache bringst. So nimmst du ihm den Wind aus den Segeln.“) — abgesehen davon, also: Weltkultur? Eine, die auf dem ganzen Erdball mit den Achseln zuckt und leicht ärgerlich registriert? Zuckt Kambodscha mit den Achseln? Registriert Uganda überhaupt?

So leicht darf man sich's nicht machen: nämlich von einer „Weltkultur“ zu reden, wo es, seit fünfundzwanzig Jahren, keine geschlossene europäische Kultur mehr gibt und zwischen Rom und Tirana ein Kontinent zu liegen scheint. Nicht einmal die allgemeine Verrohung, die will, daß man achtlos weitergehe, Wenn jemand tot zusammenbricht, ist weltweit. In China blieben die Leute stehen. Weil sie eine andere Kultur besitzen.

„Ich glaube, ein ehrlicher Weg, uns ihr (der sozialistischen Kultur) zu nähern, besteht darin, uns in unserer nichtsozialistischen Kultur der Gegenwart umzusehen und diese gegenwärtige kapitalistische Kultur dort, wo sie unmenschlich ist, zur Nichtkultur zu erklären. Wer den Sozialismus will, muß ihn im Kapitalismus aufsuchen.“

Langsam. Hier wird nichtsozialistische Kultur mit kapitalistischer Kultur gleichgesetzt und die gesamte gegenwärtige Kultur zur kapitalistischen Kultur erklärt. Wir sind wieder dort, wo Marx vor über hundert Jahren begonnen hat: Es gibt nur zwei Gesellschaften, die kapitalistische und die klassenlose, kommunistische. Und zwei Kulturen: Die kapitalistische und die, welche Herr-mann aus verständlicher Scheu vor der korrekten Bezeichnung „klassenlose, kommunistische“, die „sozialistische“ Kultur nennt.

Kulturen kann man nicht mit politischen Systemen gleichsetzen, denn die besitzen viel mehr und zum Teil ganz andere Multiplikatoren. Zudem sind die Kulturen, anders als die politischen Systeme, stetem, täglichem Wandel unterworfen. Es gibt den intrakulturellen Wandel — Gestaltwandel einer Kultur aus sich selbst heraus — und den interkulturellen Wandel — Gestaltwandel durch Übernahme und Entlehnung von

Elementen fremder Kulturen. Wir befinden uns keineswegs in einer ausschließlich kapitalistischen Kulturepoche (falls es so etwas wie eine kapitalistische Kultur überhaupt gibt), sondern leben in einer Periode vielfacher Überschneidungen von intrakulturellem und interkulturellem Wandel — und das ist das Problem, mit dem wir nicht fertig werden.

Herrmanns These, alles, was nichtsozialistisch ist, sei kapitalistisch, ist nichts anderes als die Ideologisierung des Marxismus, und dadurch wird eine wissenschaftliche Theorie zur Religion erhoben. (Leopold Gratz hat das öffentlich für unhaltbar erklärt.) Wer den Sozialismus will, muß ihn im Kapitalismus aufsuchen? Also: Wer Gott will, muß ihn im Teufel aufsuchen! Also: Klassenkampf bis ans Messer.

„Sozialistische Kulturen gibt es heute nicht, kann es nicht geben — außer in der befreienden Vorstellung vom nicht mehr vorhandenen Kapitalismus.“

Also kein allmählicher, organischer Ubergang von einer Kultur zur anderen. Vielmehr: Eine sozialistische Kultur kann erst dann zu entstehen beginnen, wenn die kapitalistische Kultur aufgehört hat, zu existieren.

Ein schrecklicher und langer Winter der Unkultur stünde uns da bevor.

„Warum gibt's Kriege? Weil es das Schicksal der Menschheit ist? Nein: Weil hier zwar irrationale, aber letztlich logische Kapitalsinteressen (Indochina) vorliegen.“

Auch im Sechstagekrieg des sozialistischen Israel gegen das sozialistische Ägypten?

„Oder der arabisch-israelische Konflikt. Er ist doch nichts anderes, als das schreckliche Erbe jenes aggressiven Kapitalismus, der Kolo~ nialismus und Imperialismus heißt, ,und jetzt, nachdem er 1948 mit einem scheinbar friedlichen Machtwort in Palästina den Konflikt installiert hat, seine Hände in Unschuld wäscht.“

Herzl! Das Gegenteil stimmt. Israel wurde von Juden gegen die ölinteressen des internationalen Kapitalismus erkämpft und mit einem Machtwort nicht von diesen, sondern von der britischen Labour-Regierung installiert. Die Kapitalisten gingen vor“ Israel in die Knie, weil sie gegen die Haganah und die Irgun Zwai Leumi ebenso machtlos waren, wie heute gegen die Feddayin. Die unter der Asche dreier Palästina-Kriege glosende Glut wird hingegen aus strategischen Gründen vom sowjetischen Imperialismus und Kolonialismus geschürt, dem man vieles vorwerfen kann, nur nicht, daß er kapitalistisch sei.

„Warum sind die Gemeindepolitiker und Stadtplaner nicht imstande, unsere Städte wirtlich zu machen? Die Abschaffung des wesentlichen kapitalistischen Elements, der privaten Grundrente, würde die Problematik rasch entwirren.“

Wenn es wirklich so wäre, brächte man die Enteignungsgesetze wahrscheinlich durch. Es ist aber so, daß die Problematik unserer Städte im mangelnden fachlichen Wissen, im mangelnden Geschmack und in der mangelnden Phantasie unserer Gemeindepolitiker liegt, sowie in der mangelnden universellen Ausbildung unserer Stadtplaner. Eines ist sicher: Selbst wenn der private Grundbesitz abgeschafft würde, der gewiß ein Hemmschuh der Stadterneuerung und Stadterweiterung ist, selbst dann würde dem Wiener Bürgermeister der leere Rathausplatz besser gefallen als ein leerer Josefsplatz. Und es ehrt ihn, daß er das zugibt.

Im übrigen muß man nur sehen, wie (ohne private Grundrente) das städtische Gesicht Bukarests oder Moskaus aussieht. Dann ist man froh, noch ein (privates) Barockhaus in der Josefstadt zu kennen.

Genug der Details. Sie dienten ja auch nur dazu, sich Fritz Herrmann „ehrlich zu nähern“. Zur Sache also. Zur Frage: Gibt es eine sozialistische Kultur? Aus Her Pprsnektive von heute kann man die Kulturen sachlich oder zeitlich gliedern: in Primitivkulturen, Höhere Kulturen und Hochkulturen, oder in Frühkulturen, Mittlere Kulturen und Spätkulturen. Dieser vertikalen Gliederung entspricht eine horizontale Gliederung in abendländische, morgenländische, indische, ostasiatische, altamerikanische usw. Kulturen, und jede einzelne dieser Kulturen besitzt Systeme, die für sie spezifisch sind: Religion, Wissenschaft, Kunst, Recht, Wirtschaft, Sitte, Erziehung, Technik, gesellschaftliches Leben usw. Erst, wenn man die Möglichkeit ins Auge faßte, daß jedes dieser Systeme gleichzeitig mit allen anderen ausschließlich nach marxistischen Regeln funktionieren könnte, dürfte man auch von einer möglichen sozialistischen Kultur reden. Das hieße aber, auf eine totale Umwälzung dieser Welt durch die kommunistische Weltrevolution zu bauen, denn sollte unsere Welt auf demokratische

Art und Weise bloß sozialdemokratisch werden, würden inter- und intrakultureller Wandel andere Tatsachen schaffen als der utopische, politische Unterbau. Eine sozialistische Kultur gäbe es nur im totalen Kommunismus — und auch dann wäre sie immer noch keine Weltkultur, sondern bliebe vertikal (vereinfacht: niveaumäßig) und horizontal (vereinfacht: geographisch) gegliedert.

Bleiben wir aber in Österreich. Bleiben wir bei dem kulturellen Unbehagen, das uns alle bedrückt; Fritz Herrmann genauso wie den, der die Schlüsse, die er daraus zieht, hier kritisiert. Es stimmt, daß wir von einer kulturellen Leukämie bedroht sind und daß der Kapitalismus (aber auch, und vor allem, das Besitzstreben des einzelnen Klassenaufsteigers) daran nicht unschuldig ist. Es stimmt, daß die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung drauf und dran ist, nicht sich selbst, sondern das Bild, das die Konsumgüterindustrie von ihr entworfen hat, zu verwirklichen. Es stimmt, daß die Kunst nicht mehr im Besitz einer geistigen Elite ist. sondern zum Spiegel und Spielball jener Klasse wurde, die Selbstdarstellung mit Selbstverwirklichung verwechselt.

Wir alle spüren den tiefen Kulturpessimismus, der um sich gegriffen hat. Er erinnert an denjenigen Jean-Jacques Rousseaus, dessen Aufschrei „Retour ä la nature!“ unserem Ruf nach Umweltschutz verdammt ähnlich ist. Kapitalismus und Sozialismus sind heute zu Hilfmitteln der Kultur degradiert. Die Errungenschaften der Technik beeinflussen den Menschen stärker, als dies alles Geld der Welt zu tun vermöchte. Die Abschaffung der Scham-haftigkeit. der alltäglich gewordene Anblick des nackten, menschlichen Körpers, hat die Gesellschaft in den letzten 25 Jahren mehr verändert, als alle sozialistischen Thesen. Und nicht länger ist die Religion das Opium des Volkes, das Opium ist zur Religion der Jugend geworden.

Der Gestaltwandel unserer Kultur ist so rapide vor sich gegangen, daß

die rechtlichen Ordnungen, die Geistesverfassung, damit nicht Schritt halten konnten. Wir befinden uns in der kritischen Phase kultureller Anpassungslücken. Unsere Hauptaufgabe ist es, diese Lücken zu schließen und den Versuch zu wagen, durch Tempoveränderung die verschiedenen kulturellen Strömungen zu synchronisieren. Ob hiedurch der Kapitalismus unter die Räder, der Sozialismus obenauf oder etwas ganz Neues zum Vorschein kommen wird, vermag heute noch keiner zu sagen.

Kultur ist, was den Menschen über sich hinauswachsen läßt. Zum Beispiel Bruno Kreisky. Oder Manfred Mautner Markhof. Ich bin dagegen, daß man die Mautner Markhofs umbringt, um Voraussetzungen für eine Kultur zu schaffen, die aus lauter Bruno Kreiskys besteht. So ganz allein unter sich, würden sie sich schrecklich langweilen.

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