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Béjart und seine Truppe

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Die beiden Abende des „Balletts des XX. Jahrhunderts“, dessen Hauptquartier die Belgische Nationaloper „Thėatre Royal de la Monnaie“, Brüssel, ist, markierten den bisherigen Höhepunkt der Wiener Festwochen 1971. Diese Truppe heißt nicht nur so, sondern sie ist das Ballett des XX. Jahrhunderts, zumindest für den alten Kontinent. Entsprechend kritisch wurde sie auch In der Neuen Welf äiifgenömmeh, .Von der Kritik. Das New.-Yor- kgr .Publikum war ,b£Kei«terk..wfe .Me* EiibÜkura.^dfim WauVięfi.,Kėjart seine Kreationen vorführt.

Was ist es, das Bėjarts Ballett und seine Choreographien so faszinierend macht? Er versteht es, die Anliegen der Jungen zu reflektieren und zugleich die Massen anzusprechen. Dies gelingt ihm vor allem in den Massenszenen. In Stnawinskys „De sacre du prdntemps" haben wir es erlebt (auch im Fernsehen); Bėjarts Choreographie von Beethovens „Neunter“ kennen wir leider nur vom Hörensagen.

Diese Interpretation unserer Zeit, ihrer Ängste und Sehnsüchte, Bėjarts unkonventionelle, viele Traditionen sprengende Erweiterung der Ballettszene und Thematik, sein Rühren an den Nervus rerüm, verbunden mit Konzessionen an den Publikumsgeschmack, machen ihm manche Fachleute zum Vorwurf — wobei in der amerikanischen Kritik vielleicht eine gewisse Eifersucht mitspielen mag. Denn New York fühlt sich heute als Ballettmetropole. Das Wiener Publikum hat ein so lautstarkes Votum für Bėjart und seine Truppe abgegeben, daß man daran nicht vorübergehen kann. Es sei bei dieser Gelegenheit auch an ein Wort Hofmannsthals erinnert, der schon vor 60 Jahren an seinen Partner Richard Strauss schrieb: „Der wirkliche und dauernde Erfolg setzt sich zusammen aus der Wirkung auf die groben und feineren Elemente des Publikums, und die letzteren schaffen das Prestige, ohne das man ebenso verloren ist, wie ohne Populärwirkung.“

An Prestige fehlt es Bėjart keineswegs. Das zeigte er gleich in der ersten Nummer „Das choreographische Opfer“, ein Gemeinschaftswerk der Truppe, das „keinen anderen Zweck hat, als diese Person, die sich Ballett des XX. Jahrhunderts nennt, zu präsentieren“. Acht zentrale Kanons aus Bachs „Musikalischem Opfer“ werden, indem man ein Tanzthema Oecchettis variiert, in klassischem Ausdrucksstil getanzt, dazwischen von einer Reihe von Tänzen (zuweilen pantomimischen Charakters) grotesk und paro dierend (auf Schlagwerkmusik) kontrapunktiert. Wobei kein Versuch gemacht wird, die beiden gegensätzlichen Welten zu „harmonisieren“. Phantasie, Eleganz und hohe Virtuosität zeichnen dieses „Choreographische Opfer“ aus, das durch eine hilflos-romantische rosenbewaffnete Primaballerina einen ebenso unerwarteten wie umwerfend komischen Schluß erhält (Thema: Paolo Bartoluzzi, Gegenthema: Micha van Hoecke.)

Für Wien schuf Bėjart „Les Fleurs du Mal“ auf fünf Gedichte von Baudelaire, mit Musik von Claude Debussy. In einem künstlichen, jugendstilhaften Ambiente treffen sich sieben Personen, nähern, verlieren sich, bilden Paare, versinken in Einsamkeit. Vielleicht ist die Idee hier schöner, poetischer, als die Ausführung. Doch erweist sich Bėjart trotzdem als ein Meister der Stimmung, die er gleich zu Beginn suggestiv ausbreitet, indem er Baude-

lairesche Kennworte leise und bedeutungsvoll in die Stille tropfen läßt: miroir, rose, odeur, mystique, tombeau, mort, ange, adieu, mystėre… Wollte man Namen einzelner Tänzer nennen, so kommt man bei Bėjarts Ballett in Verlegenheit: Es ist eine Truppe von Individualitäten, aller Rassen, Typen, Temperamente. Aber schön sind sie alle. Die Solisten der Uraufführung hießen Dyane Gray-Cullert, Suzanne Farrell, Maina Gielgud, Angėle Albrecht, Jorge Donne, Daniel Lom- mel und Floris Alexander.

Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar zu dieser poetischen Szene als der folgende Ausschnitt — „Le Jerk“ — aus der neunteiligen „Messe pour le Temps Präsent“ auf konkrete Musik von Pierre Henry, ein Schulbeispiel für Bėjarts phan- tasievolle Massenchoreographie, in der Soli und Ensembles mit größter Raffinesse abwechseln und die Gruppierungen blitzartig kaleidoskopisch wechseln. (In den Hauptpartien: Woytek Lowski, Pierre Dobrievich, Järg Lanner, Dyane Gray-Cullert, Catherine Verneuil und Tiana Bari.)

Seit einiger Zeit beschäftigt sich Bėjart eingehend mit östlicher Philosophie, Religion und Tanzkunst. Er läßt seine Tänzer Jogaübungen machen und hat einem in Brüssel gegründeten pädagogischen Tanzzentrum den Namen „Mudra“ gegeben. Das Ballett in drei Episoden „Bhakti“ auf original indische Musik ist daher kein exotischer Programmaufputz gewesen, sondern ein sehr wesentliches Zeugnis für Bėjarts choreographische und ideologische Bestrebungen. Ramas Liebe zu Sita; Krischna, der göttliche Flötenbläser; Schiwa, der die Illusion der Persönlichkeit zerstört: dies waren die Themen der drei Tanzschöpfungen, die bei aller Abhängigkeit von der Formelsprache des indischen Tanzes doch in jeder Phase die eigenwillige Handschrift Bėjarts und seiner Tänzer zeigten.

Der einzige Nachteil war, daß diese ausgedehnten Episoden den Abend übers gewohnte Maß verlängerten und das bis zur Pause begeistert mitgehende Publikum ein wenig ermüdeten. Aber Bėjart wollte eben sehr viel geben. Und dafür muß man ihm dankbar sein. Er hat sein Wiener Gastspiel nicht mit der linken Hand erledigt, das ballettfreundliche Wiener Publikum wußte es zu schätzen und dankte stürmisch.

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