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Beleuchtung der Asylfrage

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Die deutsche Kritik hat Hans Magnus Enzensbergers „33 Markierungen" zum Thema Migration recht ungnädig aufgenommen. Über die Gründe soll hier nicht spekuliert werden. Viel wichtiger erscheint es zu zeigen, daß diese negative Beurteilung unberechtigt ist.

Wie reagieren Sie, wenn Sie mit jemand anderem in einem Zugsabteil sitzen und zwei weitere Passagiere steigen zu? „Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar... Dabei verhalten sich die ursprünglichen

Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch", meint Enzensberger, und will anhand dieses Beispiels die „menschlichen Reflexe" bei der Einwanderung demonstrieren. Er hält Gruppenegiosmus und Fremdenhaß für „anthropologische Konstanten", die durch mediale „Angstlust" im besten Fall immunisiert werden. Danach sieht es derzeit allerdings nicht aus.

Enzensberger meint weiters, daß wir erst am Anfang der neuen, von den ökonomischen Ungerechtigkeiten dieser Erde ausgelösten Völkerwanderung stehen. In der Diagnose der Zeitkrankheiten stellt das Buch also tatsächlich nicht Neues dar, wie kritisch vermerkt wurde. Was dieses Buch trotzdem wertvoll macht, ist Enzensbergers ganzheitliche Sicht des Patienten. Er blickt nicht nur auf die äußerlichen Symptome, sondern bezieht auch die kranke Seele und den kranken Geist in seine Diagnose ein, etwa wenn er von „demographischer Bulimie" spricht. Darunter ist der in einem einzigen Kopf Platz findende Widerspruch gemeint, der einerseits das Aussterben der Bevölkerung befürchtet und andererseits vom vollen Boot labert.

Therapie hat auch Enzensberger keine anzubieten, aber seine Sicht der Dinge ist sehr wohl dazu angetan, Ängste zu nehmen, zwar nicht den Brandstiftern und Mördern, aber den verantwortlichen Politikern, die sich offensichtlich vor den Falschen fürchten.

DIE GROSSE WANDERUNG. 33 Markierungen. Von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. 76 Seiten, öS 154,40.

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