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Belichtetes Schattendorf

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Am 11. November 1918 unterzeichnete Kaiser Karl die Verzichtsurkunde. Am 15. Juli 1927 verbrannte sie im Justizpalast. „Vom Umsturz zum Bürgerkrieg“. Heinrich Drimmels zehntes Buch.

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Am 11. November 1918 unterzeichnete Kaiser Karl die Verzichtsurkunde. Am 15. Juli 1927 verbrannte sie im Justizpalast. „Vom Umsturz zum Bürgerkrieg“. Heinrich Drimmels zehntes Buch.

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Man muß es lesen, denn es fasziniert nicht nur den Historiker, sondern auch viele, die sich sonst nicht mit österreichischer Geschichte befassen. Das kommt daher, daß Heinrich Drimmel keine „wissenschaftlichen“ Werke schreibt, sondern aus der Darstellung bestimmter Zeitabschnitte eine Erzählung macht. Drimmels „Geschichtsbücher“ lesen sich fast wie ein Roman und büden, wie immer man zu den von ihm entwickelten Thesen auch stehen mag, ein Gesamtwerk, das dem Leser Einblick in Dinge gibt, die in der tagespolitischen Diskussion zu historischen Ereignissen oft anders dargestellt werden.

Sein bisher letztes Werk „Vom Umsturz zum Bürgerkrieg“ beschäftigt sich mit dem Entstehen der österreichischen Republik im Jahre 1918 und spannt den Bogen bis zum 15. Juli 1927, jenem österreichischen Unglückstag, der nicht nur die nachfolgende Zeitspanne bis 1938 überschattet hat, sondern seine Wirkungen auch heute noch zeigt, wenn über die Innenpolitik der Ersten Repubük diskutiert wird.

Drimmels Bemühen um Objektivität ist unbestreitbar. Alles, was er schreibt, basiert auf Quellenstudium. Für den Historiker wäre eine Quellenangabe natürlich wichtig. Aber auf diese hat Drimmel im allgemeinen verzichtet. Der Leser, der gespannt seinen Darstellungen folgt, muß ihm — und das mit Recht - glauben, daß er eben doch keinen Roman geschrieben hat.

Drimmel blättert die Geschichte des Schattendorfer Prozesses auf, in dem zwei Mitglieder des stark legitimistisch eingestellten Frontkämpferbundes angeklagt wurden, weü sie, als sie in einem Gasthaus von Schutzbündlern belagert worden waren, in - sicherlich zumindest übertriebener -Notwehrannahme ein Kind und einen Kriegsinvaliden durch Abgabe ungezielter Schüsse getötet haben. Die Täter wurden vor ein Schwurgericht gestellt und freigesprochen, was man wohl als ein Fehlurteil ansehen muß.

Bei Behandlung dieses Themas macht der Autor aber auf einen höchst wichtigen Umstand aufmerksam. Die Einführung der Schwurgerichtsbarkeit und die Erhaltung dieses Rechtssystems waren ein besonderes Anliegen der Sozialdemokratie. Nun stellte sich plötzlich heraus, daß es die Sozialdemokraten waren, die ein Urteil bekämpften, das im System der Schwurgerichtsbarkeit begründet lag.

Drimmel weist auf einen Fehler der Schwurgerichtsbarkeit hin, auf den unter anderem auch der Freispruch zurückzuführen war: Die Geschworenen hatten damals nur über Schuld oder Unschuld, nicht aber über das Strafausmaß zu befinden. Es wird ungeklärt bleiben müssen, ob das Urteil nicht anders ausgesehen hätte, wären die Geschworenen auch an der Zumessung der Strafe beteiligt gewesen. Das wurde später in diesem Sinne gesetzlich geregelt.

Noch etwas anderes geht aus diesem Buch sehr deutlich hervor: Der innenpolitisch bis heute nicht verstummte Streit rankt sich immer wieder um die Frage, wer denn zuerst in Österreich am

Platze war, die Selbstschutzverbände der bügerlich-konservati-ven Seite oder der Schutzbund der Sozialdemokratischen Partei.

Drimmel berichtet nüchtern, daß es am 15. Juli 1927 zwar die Frontkämpferorganisation, aber noch keine Heimwehr im Burgenland gegeben hat, die erst nach und infolge der schrecklichen Ereignisse von Schattendorf ihre politische Bedeutung in Osterreich erlangte. Er charakterisiert auch in diesem Zusammenhang die organisatorischen und politischen Formen der paramilitärischen Formationen in der Zwischenkriegszeit.

Während der Schutzbund eine festgefügte und straff gelenkte, zur Sozialdemokratischen Partei gehörige Formation unter zentralem Kommando gewesen ist, war die Heimwehr bzw. der Heimatschutz fast das Gegenteil. Es gab einander konkurrenzierende Landesverbände,, es gab relativ rasch wechselnde Kommandostellen, es gab vor allem überhaupt keine Bindung an eine der bürgerlich-konservativen Parteien.

Das war auch eine der Ursachen dafür, daß Kurt Schuschnigg im Jahre 1936 den Heimatschutz aus jeder politischen Verantwortung entlassen konnte, ohne daß es deshalb etwa nachher noch irgendwelche geheime Untergrundorganisationen gegeben hätte.

Natürlich gibt es neben dem hier aus wirklicher Uberzeugung ausgesprochenen Lob für Drimmels Werk auch Einwendungen, die nicht verschwiegen werden sollen. Das Buch beginnt mit 1918, und schüdert ausführlich die innere Entstehungsgeschichte der Repubük, die in den ersten Jahren

überwiegend von der sozialdemokratischen Seite getragen wurde, wobei unter anderem eingehend auf die Bemühungen der wichtigsten sozialdemokratischen Führer hingewiesen wird, einen Trennstrich zum Kommunismus zu ziehen.

Aber das VerdiensC in Österreich die Einführung des kommunistischen Rätesystems, wie es kurzfristig in München und Budapest der Fall war, abzuwehren, lag keineswegs nur auf der sozialdemokratischen Seite. Drimmel spricht zwar hie und da von der Politik der „Bauerngeneräle“, womit er die bürgerüch-konser-vativen Mehrheiten außerhalb Wiens meint, bringt aber nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß sich das österreichische Bürgertum im Fall des Falles mit allen Mitteln und sicherlich auch erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt hätte.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die von Drimmel manchmal wörtlich, meistens aber nur inhaltlich zitierten unterschiedlichen Auffassungen, wie sie etwa zwischen Otto Bauer, Julius Deutsch, Theodor Körner und Alexander Eif ler deutlich bestanden.

Eiflers wiederholte Feststellungen, daß es kein Gesetz gebe, das den Arbeitern verwehren würde, auch vor der Erlangung einer parlamentarischen Mehrheit die Macht im Staate zu ergreifen, sind signifikant. Daraus geht aber auch sehr deutüch hervor, daß der noch heute schwelende Streit, wo die besseren Demokraten zu finden gewesen wären, gar nicht entschieden werden kann.

Darum ist auch die Frage nicht zu entscheiden, wem für die bedauerliche innenpolitische Entwicklung, die dann zum Bürgerkrieg von 1934 geführt hat,' die Schuld zuzumessen ist. Natürlich gab es auf der bürgerlich-konservativen Seite Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, vor allem in der damals zur höchsten Stufe ihres Einflusses gelangten Heimwehr, ein offen ausgesprochenes Verlangen nach Abschaffung der Demokratie überhaupt.

Aber ebenso schwelte seit 1926, dem Jahr, in dem Otto Bauer am Linzer Parteitag der Sozialdemokraten von der Möglichkeit der Diktatur des Proletariats unter bestimmten Voraussetzungen sprach, das antidemokratische Feuer in Kreisen der Sozialdemokratie. Es gab also Schuld auf beiden Seiten, und das nannte man in den Diskussionen des Jahres 1984 die „geteilte Schuld“.

VOM UMSTURZ ZUM BÜRGERKRIEG. Von Heinrich Drimmel. Amalthea-Verlae. Wien 1985.431 Seiten. öS 298,-.

Der Autor ist Vizekanzler a. D.

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