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Beneidenswerte Sorgen

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Viele Einwanderer haben bald nach ihrem Eintreffen, als sie den Wohlstand des Landes sahen, die Kanadier als die glücklichsten Menschen der Welt bezeichnet. Die „Ca-nucks“ sind nicht ganz unschuldig daran. „Das 20. Jahrhundert gehört Kanada!“ rief Sir Wilfried Laurier vor 70 Jahren — als er die Geschicke der Nation lenkte. Diese Worte sind unvergessen. Unermeßlich ist der Reichtum Kanadas an Bodenschätzen. Es besitzt genügend Erdöl. Zudem hat das zweitgrößte Land der Erde nur einen freundlichen Nachbarn, die USA, ein bescheidenes Budget für die Landesverteidigung und keine Wehrpflicht.

Auf Hoffnungsvolle in fernen Ländern wirkt Kanada wie ein Magnet. Seit 1941 kletterte die Einwohnerzahl von 12 Millionen auf über 22 Millionen hinauf. Zudem gehörte Kanada zu den „Gewinnern“ des letzten Krieges. Im Jahre 1945 zählte Kanada zu den „Großen Vier“ in der Sphäre der Industrie, gemeinsam mit den USA, Großbritannien und der UdSSR. Heute ist Kanada eines der großen Agri-Powers (mit den USA, Australien und Argentinien), deren Farmen den Hunger der Welt stillen.

Obwohl die Teuerungswelle im Vorjahr unter 11 Prozent lag, hat man von Premlerminister Pierre Trudeau behauptet, „die Inflation hatte niemals einen besseren Freund“. Sein konservativer Gegenspieler Robert Stanfield bemerkte sarkastisch, von Trudeau Maßnahmen gegen die Inflation zu erwarten, sei so absurd, als wolle man einem Hasen den Transport von Salat anvertrauen...

So großzügig ist die soziale Gesetzgebung, daß nicht wenige Kanadier es vorziehen, die Arbeitslosenunterstützung oder Wohlfahrtszahlungen zu kassieren, statt zu arbei-

ten — behaupten Industrielle. Beispielsweise suchte die Forstproduktindustrie im Vorjahr 10.000 zusätzliche Arbeitskräfte — ohne Erfolg, obwohl mehr als 800.000 Kanadier arbeitslos sind. Anderseits streiken Kanadier gerne und oft. Im Vorjahr gingen durch je 1000 Arbeiter 1724 Arbeitstage durch Streiks verloren. Nur die Lage in Italien war in dieser Hinsicht ärger, behauptete „The Economist“ (London).

„Geldgier ist die nationale Schande“, donnerte der „Toronto Star“, Kanadas größte Zeitung, als

Montreals Hafenarbeiter eine Lohnerhöhung von über 60 Prozent auf 20.000 Dollar jährlich ablehnten, doch die Presse schießt auch spitze Pfeile auf die Finanzpolitik Ottawas. Als die Staatsbank ihren 40. Geburtstag beging, bemerkte Torontos „Globe & Mail“: „Die Bank of Canada hat es in diesen 40 Jahren verstanden, 80 Prozent der Kaufkraft unserer Währung zu zerstören. Sie bemüht sich nun um die lOOprozentige Vernichtung.“

Obwohl die Liberalen in 34 der letzten 40 Jahren die Geschicke der Nation lenkten, reicht ihre Popularität durchaus nicht von der Küste des Atlantik bis zu jener des Pazifik. Ihre Hochburg ist das vorwiegend französischsprachige Quebec, und auch ihre Stärke in der Kernprovinz Ontario ist eindrucksvoll. Westlich von Ontario sind sie jedoch so schwach, daß Dave Steuart — einer der prominentesten Liberalen des „Goldenen Westens“ — freimütig gestand: „Die Liberalen sind in Saskatchewan in der Opposition, in Manitoba im Versteck, in British Columbia unsichtbar und in Alberta unter Naturschutz...“

Der „Goldene Strom“ der US-Dollars nach Kriegsende führte dazu, daß eine große Zahl kanadischer Unternehmen unter ausländische Kontrolle kam. Gleichzeitig erfolgte die rapide Ausbeutung der Bodenschätze durch die großen multinationalen Konzerne. Von 1950 bis 1970 kletterte der Wert ausländischer Direktinvestitionen in Kanada von vier Milliarden Dollar auf 26,5 Milliarden Dollar, und 80 Prozent davon gingen auf das Konto der USA.

Professor Donald Creighton, Kanadas prominentester Historiker, ist der Ansicht, daß Kanada nach dem Kriegsende den falschen Weg gewählt habe. Er glaubt, daß die wirtschaftliche Unabhängigkeit eine bessere Zukunft verheißen hätte. Nun sieht er das Ende der „fetten Jahre“ gekommen. Professor Creighton behauptet: „Das Leben wird nun viel weniger leicht und komfortabel und gewiß viel kostspieliger werden.“

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