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Benjamin in der Altherrenrunde

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lm Kreml herrscht offenkundig Verwirrung. Nichts demonstriert das deutlicher als das Tauziehen um die Gespräche über Weltraumwaffen in Wien. Hintergrund dieses Gerangeis ist ein Disput über die künftige „Westpolitik" Moskaus, wobei vor allem Michail Gorbatschew für eine flexiblere Haltung eintritt. Er ist die Nr. 2 in der Kremlhierarchie und ein kommender Mann.

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lm Kreml herrscht offenkundig Verwirrung. Nichts demonstriert das deutlicher als das Tauziehen um die Gespräche über Weltraumwaffen in Wien. Hintergrund dieses Gerangeis ist ein Disput über die künftige „Westpolitik" Moskaus, wobei vor allem Michail Gorbatschew für eine flexiblere Haltung eintritt. Er ist die Nr. 2 in der Kremlhierarchie und ein kommender Mann.

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Es war sicherlich kein Zufall: US-Präsident Ronald Reagan, dessen Akte schon vom heraufziehenden Wahlkampf bestimmt werden, bot Mitte Juli den Sowjets insgesamt 16 Sachthemen zur Verhandlung an, beziehungsweise bestätigte, daß in einer Reihe von Bereichen die Kontakte zwischen den Supermächten nicht abgerissen sind.

Fast gleichzeitig kamen aus dem fernen Smolensk von Michail Gorbatschew, dem wichtigsten Mann im Politbüro hinter Tscher-nenko (gemeinsam mit Außenminister Gromyko und Verteidigungsminister Ustinow) recht ungewöhnliche Töne: Die UdSSR sei keineswegs der Ansicht, daß die Entspannung „unumkehrbar untergraben" sei.

Gorbatschew vermied es auch, die bisherige Kremlposition zu Wiederholen, wonach zuerst die NATO-Nachrüstung in Westeu-

ropa rückgängig gemacht werden müsse, ehe man wieder in einen substantiellen Dialog eintreten könne.

Während Verteidigungsminister Dimitrj Ustinow in düstersten Farben die „Gefahr eines Kernwaffenkrieges", heraufbeschworen durch „militante Kräfte des Imperialismus", malte, griff Gorbatschew zu der hoffnungsvollsten Pastell-Tube: „Wir sind überzeugt, daß es der Völkergemeinschaft früher öder später gelingt, auch diejenigen Politiker auf die Bühne des Realismus zu bringen, die ihre Verantwortung vergessen haben und sogar die Existenz der Menschheit gefährden."

Es war das erste Mal, daß Gorbatschew sich so deutlich und massiv zur Außenpolitik zu Wort meldete. Ein Vorgang von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit: Einerseits werkte er damit in die unbestrittene Domäne von Mr. „Grim-Grom", Außenminister und Politbüromitglied Andrej Gromyko, hinein und zog sich damit vermutlich den Unmut des Kreml-Granden bei.

Andererseits konnte Gorbatschew zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen nicht länger schweigen, wenn er seinen Anspruch als eindeutige Nr. 2 in der Kremlhierarchie untermauern will. Und daß er das ist, dafür gibt es eine lange und schlüssige Indizienkette:

# Gorbatschewspielteschöneine prominente Rolle beim Begräbnis von Parteichef Jurij Andropow, zu dessen politischer Seilschaft er eindeutig zählte.

# Er war der Vorsitzende jener ZK-Plenarsitzung am 13. Februar, die Konstantin Tschernenko zum Parteichef machte.

# Bei den Wahlreden für den Obersten Sowjet sprach Gorbatschew im März als Drittletzter — das vorletzte Wort hat traditionellerweise immer der Ministerpräsident und das letzte der amtierende Parteichef. Auch das war ein deutliches Signal für Gorbat-schews starke und aufgewertete Stellung; bei den letzten Wahlen zum Obersten Sowjet vor fünf Jahren hatte er als erster — und damit als der rangniedrigste Funktionär — auftreten müssen.

# Bei der großen Parteikonferenz Ende März über Landwirtschaftsprobleme gab es — außer Tschernenko — nur einen Hauptredner: Gorbatschew, der seit 1978 als ZK-Sekretär für die Agrar-

Wirtschaft zuständig ist.

# Gorbatschew war es schließlich auch, der in der entscheidenden April-Sitzung des neugewählten Obersten Sowjets Konstantin Tschernenko vorschlug, was einstimmig angenommen wurde.

Der Politbüro-Benjamin Gorbatschew wurde auch — was nicht zu unterschätzen ist — zum Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des Unionsowjets gewählt. Er trat damit an die Stelle von Tschernenko, der das Amt bis zu seiner Wahl an die Parteispitze innegehabt hatte. Gorbatschew sicherte sich mit dieser zusätzlichen Funktion außenpolitische Aktivitäten, die ihn profilieren können, wenn er es darauf anlegt.

# Diese Gelegenheit bot sich auch während des Gipfeltreffens der RGW-Staaten (das ist die Ostblock-Wirtschaftsgemeinschaft) vom 12. bis 14. Juni in Moskau. In den sowjetischen Massenmedien wurden als sowjetisches Team Partei- und Staatschef

Tschernenko, Premier Tichonow — und Gorbatschew präsentiert. • Der Tod von Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer bot Gorbatschew Gelegenheit, zum Begräbnis nach Rom zu reisen. Es wäre falsch, seine dadurch bedingte Abwesenheit am Ende des RGW-Gipfels als Machteinbuße zu deuten — die Kommuniques und Schlußdokumente lagen ja längst in den Schubladen.

Daß Gorbatschew an Berlin-guers Grab eilte, wiewohl der KPI-Chef zu den beharrlichen Kritikern gewisser Aspekte der sowjetischen Politik gehörte, signalisierte vielmehr, daß die derzeitige Nr. 2 im Kreml auch gegenüber dem Eurokommunismus flexibler sein würde — wäre er nur schon die Nr. 1.

Der 53jährige ist also, schon auf Grund seiner Ämterfülle und seines protokollarischen Ranges innerhalb der Kremlhierarchie, wie er sich aus den dargelegten Indizien ableitet, ein Mann der Zukunft.

Sein Profil ist noch eher diffus —

und das kann auch gar nicht anders sein. Als ein durch Machtmechanik designierter Nachfolger des an einem Lungenemphysem leidenden Tschernenko hat er auf einem schmalen Grat zu balancieren: Er darf keinen Zweifel an seiner Loyalität aufkommen lassen — und muß sich gleichzeitig profilieren.

Er muß als „Kronprinz" diesen seinen Anspruch untermauern, indem er Akzente setzt - wie etwa seine Smolensker Rede; er muß gleichzeitig darauf achten, daß er damit keine Bündnispartner verärgert, die er brauchen wird, wenn in Moskau wieder einmal Chopins Trauermarsch ertönen wird.

Aber eines ist sicher: Gorbatschew ist eine Hoffnung. Man wird auch für den Westen diesen Mann weiterhin sorgfältig beobachten müssen.

Aus seinen bisherigen Äußerungen, veröffentlichten Schriften und Taten läßt sich zumindest eines ableiten: Er ist dynamisch

und impulsiv, so weit dies in der gefährlichen „Höhenluft" des sowjetischen Politbüros überhaupt möglich ist. Er ist experimentierfreudiger als seine erstarrten Genossen — seine begrenzten Reformen in der Landwirtschaft in Stawropol, wo er in den 70er Jahren das Bonussystem einführte und damit die Arbeitsproduktivität um das Sechsfache steigern konnte, beweisen es.

Als der einzige Mann der Nachkriegsgeneration im Kreml ist er —was seine bisherigen außenpolitischen Äußerungen beweisen -nicht so sehr von der „Einkreisungsangst" anderer Moskauer Führer befallen. Und nicht zuletzt: Er hat eine gediegene Fachausbildung und Auslandserfahrungen — durch Reisen in die Bundesrepublik, Frankreich, Kanada, Portugal und zuletzt Italien. Er hat sich dabei geschäftsmäßig, interessiert und aufgeschlossen gezeigt. Attribute, die man der übri^ gen Altherrenriege im Kreml wohl nur schwer zumessen kann.

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