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Berlin als Prüfstein, Eckstein, Schlußstein

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Die „Stachelschweine“ witzeln über die „Kreishauptstadt Berlin“. Die weit über Deutschland hinaus bekannten - und zeitweise ob ihrer Schärfe gefürchteten - Kabarettisten vom Keller des Europa-Centers in der Tauentzienstraße karikieren ein Phänomen, das Egon Bahr in Worte faßte, zum empörten Protest seiner Genossen von der Spree: Die geteilte Reichshauptstadt von einst sei provinziell geworden. Es fehle ihr die weltstädtische Note, die sie einst, als es noch keine Mauer gab, berühmt und behebt gemacht hatte. Stimmt dies?

Filmfestwochen, Tourismusbörse, Eröffnung des supermodernen Kongreßzentrums am Funkturm widersprechen der Behauptung. Sperrstunde gibt es nicht, der Verkehr pulsiert bis weit in die Nacht. Auch wenn die Autos in diesen nebligen Märztagen zwischen hohen, schwarzverkrusteten Schneehaufen und Eisschollen jonglieren müssen, obwohl der letzte Schneefall schon wieder 14 Tage zurück liegt.

Provinziell? Darüber gehen die Meinungen auseinander - aber über eines sind sich Einheimische und Besucher bald einig: die, Inselneurose, die Frontstadt-Atmosphäre, die noch vor zehn Jahren das Leben Berlins und seiner Menschen geprägt haben, scheinen verflossen. Hat man sich daran gewöhnt, von der Umwelt abgeschlossen zu sein? Sind schon so viele Junge nachgewachsen, die nichts anderes mehr kennen, daß sie es für selbstverständlich halten, beim Weg in den anderen Teil der Stadt, in das übrige Deutschland kontrolliert zu werden? Oder haben die Ostver.

„Wenn aie Sowjets sich den Rücken freihalten wollen, muß dies den Berlinern zugute kommen“

träge von 1972, die Lockerung der Reisebedingungen sich wohltuend auf die Atmosphäre ausgewirkt?

Vor den Wahlen am 18. März, bei der das Abgeordnetenhaus (der Landtag) und die Bezirksverordnetenversammlungen (die Gemeinderäte) neu bestimmt werden, ist die Konfrontation vor allem zwischen den beiden Großparteien heftig. Aber in der Einschätzung der Position Berlins innerhalb der Weltlage gehen die Aussagen weitgehend parallel.

Herausforderer Richard von Weizsäcker, gebürtiger Schwabe, „gelernter Berliner“ und nun von der Bun-des-CDU den Kollegen an der Spree als Wahllokomotive gesandt, formuliert seine „Dreisteine-Theorie“: Berlin ist der Eckstein des atlantischen Bündnisses, der Prüfstein der Ost-West-Beziehungen und der Schlußstein der immer noch und wohl noch auf längere Zeit offenen deutschen Frage; Berlin ist ein ungeheuer empfindlicher Seismograph- wenn etwas schiefgehe, dann zuerst hier. Aber hier beweise sich auch der Ernst der Entspannungsbemühungen, und wenn die Sowjets Wert darauf legen, sich nicht nur die deutschen Wirtschaftsbeziehungen zu erhalten, sondern sich auch den Rücken in Europa freizuhalten, solange die Grenze gegen China bedroht ist - dann müsse sich dies auch zugunsten der Berliner, aber auch der Menschen hinter der Mauer auswirken.

Das ist weitgehend auch die Ansicht von „Titelverteidiger“ Dietrich Stobbe, pragmatischer SPD-Mann, und seit zwei Jahren Regierender Bürgermeister Berlins. Sein Pressesprecher Peter Soetjen, selbst erst vor wenigen Jahren aus Schleswig-Holstein zugewandert und an der Spree hängengeblieben, unterstreicht, daß kein anderer Ort in Europa so stark von den Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik

Deutschland und den Westalliierten einerseits, den Sowjets und der DDR anderseits von 1971/72 profitiert habe.

Wer erinnert sich noch an die Luftbrücke von 1948, als die „Rosinenbomber“ der Amerikaner die plötzlich abgeschnittene Stadt über Monate mit Lebensmitteln, Heizmaterial und allem Nötigen versorgten, bis den Sowjets die Lust verging? An das Chruschtschow-Ultimatum von 1958? Nur die Mauer steht seit 1961 handgreiflich zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, aber seit der Wiedereröffnung der Besuchsmöglichkeiten nach Abschluß der Ostverträge im Sommer 1972 haben 22 Millionen Personen die Grenzstellen passiert.

Natürlich gibt es immer wieder Nadelstiche, die im Bewußtsein halten, daß man „drüben“ die Zugehörigkeit Berlins zum westlichen Teil Deutschlands leugnen möchte. Der Streit um die Zugehörigkeit westberliner Sportler in der Olympiamannschaft der Bundesrepublik bei den bevorstehenden Sommerspielen 1980 in Moskau ist nur einer davon. In Bonn und Berlin spricht man von „Bindung“ der Westsektoren an die Bundesrepublik, in Moskau und Pankow von „Verbindung“. Im Vertragstext „Berlin ist ,wie bisher' kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik“ werden die Worte ,wie bisher' vom Osten ausgelassen - sie kennzeichnen ja den Umstand, daß sich durch die Verträge in der Position Berlins nichts geändert habe.

Aber die Proteste gegen die Anwesenheit von Bundespolitikern in Berlin sind seltener geworden. Als kürzlich Stobbe routinemäßig den Vorsitz im westdeutschen Bundesrat übernahm - dem Berlin/als elftes Land mit Sonderstatus angehört - blieb der Protest aus. Man hat sich beiderseits mit dem Gedanken abgefunden, auf lange Zeit so miteinander auskommen zu müssen.

Nur über die Folgerungen, die aus diesem Abfinden zu ziehen sind, gehen die Meinungen auseinander. Stobbe pocht auf sein Programm, eine „Stadtpolitik“ machen zu wollen, Realpolitik als Antwort auf Berlins tiefe Sehnsucht nach Ruhe, auch wenn er sich bewußt ist, daß nichts hier ohne Auswirkungen auf die Außenpolitik geschehen könne. Deswe-

gen hat er nicht nur sämtliche Interviewwünsche abgelehnt, als er Bundesratsvorsitzender wurde, sondern verzichtet auch darauf, die gelegentlichen Pflichtausfälle östlicher Medien oder Politiker mehr als unerläßlich zu beantworten.

Weizsäcker dagegen warnt davor, diese „Stadtpolitik“ zur Provinziali-sierung ausarten zu lassen - womit Bahr recht behielte. Wohl gibt es in der Stadt selbst viel zu verändern. Für den Christdemokraten scheint vor allem die in seinen Augen katastrophale Familien- und Schulpolitik dringend reformbedürftig, wobei dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend stärker als bisher die freien Träger zum Zug kommen sollten. Aber die „Stadtpolitik“ dürfe nicht so weit gehen, daß die Welt das Interesse an Berlin verlieren könnte.

Bestünde diese Gefahr? Könnte die Salamitaktik der DDR nicht eines Tages dazu führen, daß die Wellen des „roten Meeres“ über der Insel zusammenschlügen?

Daran glaubt niemand, weder von den Politikern, noch auch offenbar unter' den Menschen der geteilten Stadt selbst. Wobei zunächst wohl der Umstand entscheidend ist, daß der Osten den Umschlagplatz, die hohen Westvaluta-Einnahmen, die mit dem Sonderstatus Berlins verbunden sind, nicht entbehren kann.

Und die Menschen „drüben“, in der DDR? Haben sie einen Vorteil von den Ostverträgen gehabt? Hat sich ihr Leben gebessert?

Hier sind sich Stobbe und Weizsäcker wieder einig - die Teilung Deutschlands und Berlins wird von ihnen nicht als unabänderlich angesehen, nicht einmal als so langfristig, wie etwa von Helmut Schmidt, der in diesem. 'Jahrhundert an keine Änderung mehr glaubt. Damit aber bleiben die Menschen im Osten Deutschlands stets im Blickfeld. Und im Empfangsbereich der westlichen Medien.

Pressesprecher Soetjen spricht vom „Nischenkommunismus“, der sich „drüben“ breitgemacht habe: In perfektioniertem Zwiedenken folgen die Menschen tagsüber den Parolen des Regimes, um sich nach Dienstschluß in ihre private „Nische“ zurückzuziehen, und das Westprogramm im Fernsehen aufzudrehen.

Die 22 Millionen Menschen, die in

diesen sechs Jahren eingereist sind, haben die locker gewordenen Kontakte zu den Verwandten wieder fester werden lassen. In umgekehrter Richtung dürfen nur Pensionisten ausreisen.

Auf jeden Fall aber gelangen auf diesen Wegen viele D-Mark-Millionen ins Land - und schaffen die neue Dreiklassen-Gesellschaft, die der Volksmund „drüben“ bewitzelt: die „Inters“, die mit Westgeld in den Intershops einkaufen und sich mit allen begehrten Westwaren eindecken können; die „Exquis“, die - ohne Westgeld - in den neuen „Exqui-sit“-Läden zu weit überhöhten Preisen ebenfalls kaufen können, was sie sich leisten können; und schließlich die „Hopper“, die von Staats-Laden zu Staats-Laden „hoppen“, um zu fragen, was es dort gerade einmal gebe...

Berlin provinziell? Eine Stadt, die so empfindlich auf alle Regungen der Weltpolitik reagiert wie Berlin, kann nicht provinziell werden. Mögen auch die Stachelschweine so manches an eigener früherer Schärfe verloren haben, wenn sie das mangelhafte Funktionieren der Straßenrei-

„Die drei neuen Klassen in der klassenlosen Gesellschaft der DDR“

nigung oder die schlechten Flugverbindungen karikieren, die Korruption der Parteifunktionäre oder die Dummheit jener Frauen, deren Leitsatz ist: „ ... sagt mein Mann!“

Vielleicht haben sie recht, wenn sie nostalgisch an Ernst Reuter, an Ernst Schreiber, an Willi Brandt erinnern und nach „Persönlichkeiten“ für Berlin rufen. Vielleicht könnte Weizsäk-ker diese Position einnehmen - aber dazu müßte er die Traummarke der 50 Prozent überspringen.

Zum 44-Prozent-Ergebnis von 1975, mit dem die CDU erstmals die SPD auf Platz 2 verwies, hatte die Entführung ihres Sp|^ze^k;arAdid,aten Peter Lorenz unmittelbar vorher viel mitgewirkt Wenn ja^ghsAxgl Sprjn* gers „Morgenpost“ für die letzten Tage vor der Wahl von einem bevorstehenden neuen Schlag aus der Terrorszene orakelt - auf diese „Wahlhilfe“ möchte man lieber verzichten.

Solange die FDP nicht mehr als ein Drittel ihrer Wähler verliert, und damit unter der Fünf-Prozent-Marke bleibt, ist an ihrer Schützenhilfe für die SPD nicht zu zweifeln. Wunder sind auch an der Spree nicht zu erwarten - auch wenn manchem die Entwicklung der letzten zehn Jahre fast wie ein solches vorkommt.

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