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Berlin im Jahr des Büffels

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„Horizonte” rücken nicht auf Knopfdruck nah heran. Das dritte West-Berliner „Festival der Weltkulturen” — nach dem chinesischen Kalender „Im Jahr des Büffels” genannt, aber darüber hinaus die ganze Region Ostasien/Südostasien anpeilend — war ein utopischer Versuch, für den von Seiten der Politiker das Wort „Dialog” überstrapaziert wurde. Ein Dialog setzt zweierlei voraus: das Wissen übereinander und das Zeithaben füreinander. Schneisen ins Nicht-Wissen wurden geschlagen in diesen vierundzwanzig Tagen; ausdrücklich sei es gesagt: auch für das Verstehen der Lebenssituationen in den asiatischen Ländern.

Den Kern bildete die Kultur mit den Schwerpunkten der Musik und des Theaters; es wurde etwas Literatur geboten und ein wahrhaft umfassendes Filmprogramm. Kultur ist kein „Allesf än-gerbegriff”, wie auf einem wissenschaftlichen Symposium richtig gesagt wurde, aber mit dem sozialen Leben eng verbunden. In der Kultur ist gesellschaftliches und im weitesten Sinn religiöses Wissen bewahrt.

Mit dem Zeithaben in der Gegenwart war es weniger gut bestellt. Fast alle Veranstaltungen waren ausverkauft, wurden bejubelt; selbst Neue Musik aus Japan, Süd-Korea, China traf auf ungewöhnliche Hörbereitschaft. Die chinesischen Schauspieler-Sänger, Musiker, Artisten, Puppenspieler verbreiteten eine Atmosphäre der Herzlichkeit, die westliche Besucher nahezu beschämte. Aber die Ensembles waren in ein Management unseres Kulturbetriebes eingespannt, das ihnen zuweilen den Atem genommen haben muß.

Äußerlich gesehen lag es an der Kooperation mit Zürich und Amsterdam; Sparmaßnahmen zwangen die Gäste zu stundenlangen Autobusfahrten — Strapazen, die bei Vertragsabschluß wohl von allen Beteiligten nicht richtig eingeschätzt wurden. In einer tieferen Schicht stellte sich die Beengung der Berliner Festspiele GmbH heraus durch Auflagen, die ihnen für Aktivitäten außerhalb des puren „Festivals” - etwa Gesprächskontakte zwischen chinesischen und europäischen Puppenspielern — die Mittel versagten.

Im Innersten geht es um divergierende Vorstellungen von Zeit und ihrem Wert, wobei das schnellebige, von allen Industrienationen der Welt am stärksten „robotisierte” Japan wiederum eine Sonderstellung einnimmt.

Aber gerade hier regen sich zumindest außerhalb von Tokio die kulturellen Gegenkräfte. Kultur wird erschlossen durch die Musik; der Klang der japanischen Bambusflöte Shakuhachi zur „Hori-zonte”-Eröffnung und am Ende, gespielt von einem Europäer (Andreas Gutzwiller), der als erster Nicht-Japaner sich einen „Meister” der Kinko-Schule nennen darf, erschien wie ein Symbol des Aufeinander-Zugehens.

Vielfach wurde das Ubergewicht Chinas beklagt. Die Ausstellungen mit Kunstwerken aus dem Palastmuseum Peking und über die Beziehungen zwischen Europa und dem kaiserlichen China setzten vier Wochen vor Beginn spektakuläre und vielgerühmte Akzente; die Sichuan-Oper aus Chengdu und die Kun-Oper aus Nanjing beschrieben — zusammen mit dem japanischen Kabuki - das weite Spektrum eines formalisierten „Musiktheaters”, das künstlerische Haltung und ästhetische Zeichenhaftig-keit mit maximalem Effekt verbindet.

In China treffen die Strukturen von Konfuzianismus, Mahayana-Buddhismus, Taoismus und westliche Einflüsse (Marxismus, wirtschaftlicher Liberalismus) aufeinander. Die Volksrepublik ist ein Land in dauernder Veränderung, mit offenbar unerschöpflicher Lernfähigkeit. Die Drehsprünge, Loopings, Salti, die in dem mythologischen Sichuan-Stück „Die weiße Schlange” für eine Kampfhandlung feindlicher Mächte stehen, kann der Europäer nur staunend bewundern. Er sieht die Bewegung erst, wenn sie in vollem Gange oder gar schon ausgeführt ist. Nicht anders ergeht es ihm mit der chinesischen Realität. Sie ist kein Trick wie am gleichen Abend der „fliegende Maskenwechsel”. Sie ist keine Maske (wie oft geglaubt wird). Mit dieser Realität rechnen heißt: die Utopie konkretisieren.

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