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Berliner Nüsse
Am 17. Juni jährt sich zum 18. Male der Tag, an dem in der DDR die Arbeiter den Aufstand probten, der jedoch im Feuer sowjetischer Panzer zum Erliegen kam. Es war übrigens die Geburtsstunde des Panzerkommunismus. Dieser Tag wurde jahrzehntelang in der deutschen Bundesrepublik mit Gedenfeiem begangen als Zeichen dafür, daß man die Bewohner des anderen Teils Deutschlands nicht vergessen hat. Doch die Erinnerung verblaßt, und das Vergessen ist eine unmenschliche Eigenschaft. Heute bedeutet der 17. Juni der deutschen Bundesregierung eine große Verlegenheit. Als Feiertag kann sie ihn nicht abschaffen, weil sonst die Gewerkschaften wegen des Entzugs eines arbeitsfreien Tages rebellieren würden; und im kapitalistischen Westen ist der Wille der Arbeiter noch heilig. Der Versuch, ihn mit Panzern zu brechen, wie dies in den Arbeiterparadiesen geschieht, hieße, ein Verbrechen begehen. Also hoffen die Regierenden auf schönes Wetter, damit sich die Menschen vergnügen können. Was zählt heute schon die nationale Not gegenüber dem Vergnügen? Bundeskanzler Brandt fuhr nach Amerika, um jeglicher Gefahr, daheim eine Gedenkrede halten zu müssen, zu entrinnen.
Nichts könnte besser die Lage der deutschen Teilung demonstrieren, als die Gleichgültigkeit, mit der heute die Menschen im westlichen Teil Deutschlands den Ereignissen von 1953 gegenüberstehen. Die DDR ist für den Durchschnittsbürger zum Ausland geworden. Die Bezeichnung „Sowjetische Besatzungszone“ (SBZ) verschwindet aus den amtlichen Schriftstücken, und das Grenzgebiet zwischen der DDR und der Bundesrepublik heißt nun nicht mehr Zonenrandgebiet, sondern innerdeutsches Grenzgebiet. Der Akzent liegt auf dem Begriff „Grenze“. Die Grenze zwischen zwei deutschen Staaten, die einander fremder gegenüberstehen als Westdeutschland gegenüber Frankreich oder die DDR gegenüber der Sowjetunion. Als Höhepunkt dieser Entwicklung kündete Außenminister Scheel die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO etwa für das Jahr 1973 an.
Zu diesem Optimismus beflügelt Scheel das erste sowjetische Entgegenkommen in der Berlin-Frage während der 21. Botschaftersitzung. In dieser erklärte sich die Sowjetunion bereit, die Garantie für die Zufahrtswege nach Berlin zu übernehmen. Bisher hatte sie in dieser Frage auf die ausschließliche Zuständigkeit der DDR verwiesen. Auch soll eine Einigung dahingehend erzielt worden sein, daß die Westberliner künftig wie Bürger der Bundesrepublik behandelt werden sollen und so wie diese aus geschäftlichen und touristischen Gründen und nicht nur in Krankheits- oder Todesfällen die DDR und Ost-Berlin besuchen dürfen. Die Optimisten im Bonner Außenamt sprechen deshalb schon von 50 Prozent, die zwischen den Sowjets und den drei Westmächten für eine Berlin-Regelung ausgehandelt worden wären. Die nüchternen Fachleute jedoch erklären, daß sich die vier Mächte über etwa ein Achtel aller Probleme, die eine befriedigende Berlin-Lösung umfassen, verständigt hätten.
Auf jeden Fall sind die schwersten Hürden erst zu nehmen. Schon die Art des Vorgehens mahnt zur Vorsicht. Die Botschafter tauschten zuerst Grundsatzpapiere mit den unvereinbaren Hauptpositionen der
Westmächte und der Sowjetunion aus und begaben sich dann auf die Suche nach gemeinsamen Berührungspunkten in Einzelfragen. Als unüberbrückbar wurden die Meinungsverschiedenheiten über den Status von Berlin erkannt. In dieser Beziehung ist die Lage gewissermaßen unverändert, was juristisch bedeutet, daß der Status quo gewahrt bleibt. Nun sind aber Status- Probleme und praktische Regelungen nicht ohne weiteres zu trennen. Für die Sachfrage der Zufahrtswege fordert die Sowjetunion beispielsweise den Abbau der Bundespräsenz, die zweifellos zu den Statusproblemen gehört. Hier scheint auch die deutsche Bundesregierung zum Nachgeben bereit zu sein. In dem umstrittenen Artikel des FDP- Organs „Liberal“, als dessen Verfasser einhellig Regierungssprecher von Wechmar angesehen wird, heißt es, daß die Ansprüche Bonns, was die Bundespräsenz in Berlin betrifft, nur politisch und nicht rechtlich zu fundieren sei. Allerdings könnte man dies in noch viel größerem Ausmaß von Ost-Berlin behaupten, das nahezu völlig in der DDR integriert ist. Bonn ist bereits entschlossen, auf die Wahl des Bundespräsidenten und auf Plenarsitzungen des Bundestages in West-Berlin zu verzichten, auch auf das Recht des Buodes- präsidenten, in Berlin Hoheitsakte zu setzen. Die Gleichung heißt demnach: Weniger Bundespräsenz = weniger Schikanen im Verkehr. Zu den Statusproblemen zählt ferner auch, inwieweit die DDR in eine Berlin- Regelung eingeschaltet werden soll. Und die schwierigste Frage überhaupt, ohne die es keine zufriedenstellende Berlin-Regelung geben kann, gehört ebenfalls in den Bereich des Status von Berlin: Die Zugehörigkeit West-Berlins zur Bundesrepublik, zu deren Wirtschafts-, Finanz- und Rechtsordnung, und die außenpolitische Vertretung der Stadt durch die Bundesrepublik. Hier gehen die Meinungen weit auseinander, da die Sowjetunion die Ansicht vertritt, daß West-Berlin eine „selbständige“ politische Einheit darstelle.
Die innerpolitische Kernfrage in der deutschen Bundesrepublik bleibt aber der Begriff „befriedigende“ Berlin-Regelung. Hier wirft die Opposition der Regierung eine „zwielichtige Haltung“ vor, und der Fraktionsführer der CDU, Barzel, erklärte, die Regierung könnte keine Mehrheit für ihre beiden Ostverträge erhalten, wenn nur praktische und jederzeit widerrufbare Maßnahmen vereinbart werden. Die Opposition sieht sich in ihrer Skepsis um so mehr berechtigt, als das nach der Berliner Blockade von 1949 zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossene Abkommen ein rechtlich an sich ausreichendes Abkommen über die Freiheit der Verkehrswege nach Berlin darstellt und dennoch weder Schikanen noch „Blockadeübungen“ durch die DDR verhinderte.
Nun hat Bundeskanzler Brandt im Bundestag erklärt, daß noch immer die gemeinsamen Grundsätze von Regierung und Opposition in der Frage Berlin bestehen. Das Mißtrauen selbst wurde jedoch nicht beseitigt, da es nicht zu übersehende Unterschiede in den Äußerungen aus den Reihen der Koalitionsparteien zum Berlin-Problem gibt. Um den Begriff „befriedigend“ wird es innenpolitische Schlachten in der Bundesrepublik geben.
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