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Bernhard Grzimeks Vermächtnis

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Eine neue Säugetier-Enzyklopädie dokumentiert den Paradigmenwechsel in unserem Verhältnis zur Tierwelt: Vom vordergründigen Nützlichkeitsdenken zur Sorge um den Reichtum der Welt. Im Zoo können die bedrohten Arten nicht auf Dauer überleben.

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Eine neue Säugetier-Enzyklopädie dokumentiert den Paradigmenwechsel in unserem Verhältnis zur Tierwelt: Vom vordergründigen Nützlichkeitsdenken zur Sorge um den Reichtum der Welt. Im Zoo können die bedrohten Arten nicht auf Dauer überleben.

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Die überwiegende Mehrzahl der teils vertrauten, teils exotischen, teils auch überaus bizarren Lebewesen, die in „Grzimeks Enzyklopädie“ der Säugetiere vorkommen, waren auch unseren Vorfahren bekannt. Trotzdem ist in dem fünfbändigen Werk keineswegs nur das Neue neu, sondern auch das Bekannte wird in einem oft völlig veränderten Licht gesehen.

Grzimeks Säugetier-Enzyklopädie kann guten Gewissens als das Vermächtnis Bernhard Grzimeks — der in der Vorbereitungsphase des gewaltigen editorischen Werks während eines Zirkusbesuches plötzlich starb — bezeichnet werden. Die Zusammenarbeit einer großen Zahl hervorragender Fachleute, deren jeder in der Lage sein mußte, sein Wissen in einer für eine große Leserschaft fesselnden Weise darzustellen, ist nur ein Punkt, in dem es sich von früheren, zumeist im Alleingang entstandenen Enzyklopädien dieser Art unterscheidet.

Auch dem Tier gegenüber hat so etwas wie ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Der vordergründige Nützlichkeitsstandpunkt, der auch den Zoologen und Forschungsreisenden Alfred Brehm (1829 bis 1884) stärker bestimmte, als viele heute wahrhaben wollen, wich der Sorge um den Reichtum unserer Welt, besser gesagt der Trauer, denn selbst der größte Optimist kann nicht darüber hinwegsehen, daß das Artensterben mehr und mehr auch solche Tiere erfaßt, ohne die man sich die Welt noch vor kurzem kaum vorstellen konnte. Mit dem Regenwald werden etwa unzählige Papageienarten dahingehen. Von der Vorstellung, der Zoo könnte die Rolle einer modernen Arche Noah auf lange Dauer spielen, müssen wir uns verabschieden. Unter veränderten Lebensbedingungen setzt, soweit man es heute beurteilen kann, zwangsläufig auch ein Prozeß genetischer Veränderungen ein.

Wenn die Zerstörung unseres Planeten so weitergeht, wird Grzimeks Säugetier-Enzyklopädie also eines nahen Tages zu einem beträchtlichen Teil Verlorenes beschreiben. Für die meisten von uns handelt sie sowieso zu einem großen Teil von Wesen, die wir in natura nie zu Gesicht bekommen. Und jene, die betucht genug sind, sich Abenteuerreisen in die Gegenden, in denen die Welt (angeblich) noch in Ordnung ist, zu leisten, stiften dort oft nicht geringeren Schaden als daheim die Käufer von Leopardenmänteln und Seehundpelzen oder lebenden exotischen Tieren, bei denen oft Dutzende und mehr umgekommene Exemplare auf jedes, das verkauft wird, kommen. Das gilt nicht nur für Echsen, sondern zum Beispiel auch für viele Affen, die in unseren reichen Industriestaaten zu viele „Freunde“ finden.

Die atemberaubend gute Bebilderung der Bände ermöglicht Teilhabe an Erlebnissen, die sowieso meistens auch dem sogenannten Abenteuer-Touristen verschlossen bleiben. Kaum wurden die Berggorillas zum Beispiel

„populär“, werden sie auch schon touristisch vermarktet — was ihren Untergang beschleunigen kann. Bildserien wie die in Band zwei stellen die Regel, ein Foto könne die Wirklichkeit nicht ersetzen, auf den Kopf: auf den Anblick eines Gorillas, der bestätigt, daß diese Art sich als einzige unter den drei Menschenaffen an das Leben auf dem Boden angepaßt hat und daher beim Klettern eine äußerst komische Figur machen kann, müßte der Tourist wohl länger warten, als sein Urlaub währt.

Von Bernhard Grzimek selbst stammt übrigens ein Text über den Versuch, Zoo-Schimpansen „auszuwildern“, also wieder in ihrem angestammten Lebensraum heimisch zu machen. Grzimek war Zoodirektor in Frankfurt, Tierschriftsteller, Forschungsreisender und Verhaltensforscher in einer Person, kein anderer erwarb sich größere Verdienste um eine den Bedürfnissen der Tiere entsprechende Zoohaltung. Ein Dressurfoto, bei dem Zoo-Schimpansen lernen, zu fünft nebeneinander zu sitzen — was Zootieren nach heutigem Wissen großen Spaß macht -, ist von umwerfender Komik.

Auch ein so triviales Tier wie die Ratte kann man — wohl dank der elektronischen Lichtschranke

„Unter den Autoren Irenaus Eibl-Eibesfeldt, Dian Fossey, Jane Goodall“

- so fotografieren, wie es kaum jemand gesehen hat: Im Absprung von einem Abfallkübel, pfeilartig in die Länge gezogen vom Barthaar bis zur Schwanzspitze, mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck, den man am ehesten als „konzentriert, aber dabei locker“ beschreiben kann.

Das ganze Werk ist hervorragend geschrieben, auf einem Niveau, das ein einzelner schwerlich über mehr als 3.000 Seiten durchhalten könnte. Es eignet sich nicht nur zum Nachschlagen, zur schnellen Information, es ist auch im Zusammenhang vergnüglich lesbar - Produkt eines Teamworks, wie es in dieser Weise selten glückt. Unter den rund 100 Autoren finden sich (um nur drei zu nennen) Irenaus Eibl-Eibesfeldt, Dian Fossey, Jane Goodall.

Die alle Darstellungen beherrschenden Gesichtspunkte sind die der Rettung der Tiere, der Verhaltensforschung und der Evolution als eines Geschehens von größter Bedeutung für den nach seiner Herkunft fragenden Menschen.

Bei der Rettung akut oder längerfristig vom Aussterben bedrohter Arten kann der Zoo wertvolle Hilfestellung geben. Die Beobachtung im Zoo ergänzt die in der freien Wildbahn, denn die Wissenschaftler, die heute die Bedürfnisse einzelner Arten untersuchen — ohne deren Kenntnis man meist vergeblich auf Nachwuchs wartet —, befinden sich oft im Wettlauf mit dem Aussterben in der

„freien wild- Die schönen bahn . Auch wenn der Zoo sie nicht auf Dauer retten kann, will man doch das Uberleben gefährdeter Arten in der Hoffnung auf eine Wiederherstellung ihrer Lebensräume bis dahin in der Gefangenschaft sicherstellen.

Zoologische Gärten brauchen Geld. Die Beträge, die sie brauchen, sind ein Nichts neben dem, was erforderlich ist, wenn es um die Rettung bedrohter Lebensräume geht. Vor allem aber muß öffentlicher Druck erzeugt werden, nicht zuletzt Druck breiter Schichten in den Industriestaaten auf jene, welche aus Profitinteresse oder unter „wirtschaftlichen Zwängen“ die Zerstörung riesiger Biotope vorantreiben. Voraussetzung für die Entstehung eines solchen Drucks ist, daß immer mehr Menschen überhaupt einmal erkennen, worum es geht.

Dieser Bewußtseinsbildung dienen Bücher wie Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere in vorbildlicher Weise. Solche Werke spenden nicht nur Wissen, sondern auch Freude und machen sensibel für die Werte, die wir im Begriff sind, zu verlieren.

GRZIMEKS ENZYKLOPÄDIE DER SÄUGETIERE in fünf Bänden. Verlag Kindler, München 1988. Je 650 Seiten, insgesamt zirka 3.500 Bilder, Ln., Subskriptionspreis bis 31.1. 1989 pro Band öS 998,50 (keine Abgabe einzelner Bände).

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