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„Beschränkter, intoleranter“

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Es 1st noch nicht lange her, daß sich die Katholiken über die Zersplitterung des Protestantismus in Sekten und rivalisierende antagonistische Schulen lustig zu machen pflegten. Aber eine leichte Lockerung des Eisenkorsetts, in das sie seit der Reformation eingepreßt waren, genügte, um bei ihnen selbst noch viel schlimmere Zustände herbeizuführen. Jeder glaubt nur noch und praktiziert nur noch, was ihm Spaß macht; und der kleinste Vikar wie auch der unbedarfteste Journalist urteilt über alles und jedes mit unfehlbarer Sicherheit, ist empört, wenn der Papst, von den Bischöfen gär nicht zu reden, sich erlaubt, anderer Meinung zu sein, und findet es einfach unerträglich, daß andere Priester oder Gläubige anders denken. Man ist für Freiheit, gewiß doch, aber jeder fordert sie nur für sich, und sie besteht vor allem darin, daß sich keiner um die Ansichten des anderen zu kümmern braucht.

Das ist das Paradoxeste an der gegenwärtigen Situation: im Augenblick, da jeder Sinn für Autorität verlorengegangen ist, entwickelt sich, bei Laien übrigens genauso wie bei Geistlichen, ein Neoklerikalismus, der beschränkter, intoleranter, aggressiver ist als alles, was je bisher in dieser Hinsicht geboten wurde.

Ein typisches Beispiel ist das liturgische Latein. Das Konzil hat sich klar und deutlich für die Beibehaltung dieser in der Liturgie der westlichen Länder seit alters üblichen Sprache entschieden, hat jedoch für alle die Fälle, in denen die Erfordernisse des Pastoralamtes den mehr oder weniger weitgehenden Gebrauch der jeweiligen Landessprache nahelegen, Abweichungen von diesem Prinzip großzügig freigestellt. Nachdem bisher nicht einmal daran zu denken gewesen war, daß die Landessprache in der Liturgie etwa auch nur bei der Verkündigung des Wortes Gottes ihren Platz gefunden hätte, verfällt nun die große Masse der Priester sofort von einem Extrem ins andere und will überhaupt kein Wort Latein mehr in der Kirche dulden.

Was hier über das Latein gesagt wurde, trifft auf die ganze Liturgie zu. Das ist um so bedenklicher, als das Konzil gerade ihre zentrale Bedeutung für das gesamte Leben und Wirken der Kirche wieder klar herausgestellt hat. Vor kurzem wurde darauf aufmerksam gemacht, daß es in den traditionellen Kirchen, insbesondere der katholischen, gerade die der willkürlichen Manipulation entzogene Liturgie sei, welche die geistige Freiheit der Gläubigen gegenüber der sich leicht in den Vordergrund drängenden diktatorischen Subjektivität der Geistlichen garantiere. Davon ist jedoch nicht mehr viel übrig. Das einzige Recht, das der Katholik heute noch hat, ist, sich der religiösen Überzeugung seines jeweiligen Pfarrers mitsamt ihren Idio synkrasien und Tides, mit all Ihrer Beschränktheit und Unbeständigkeit anzusdiließen.

Die gegenwärtige Situation des Gottesdienstes in der katholischen Kirche ähnelt weitgehend der des Protestantismus. Bei diesem allerdings schafft der Respekt vor dem Wort Gottes auf seiten des Pfarrers und ein großes Maß an Bibelkenntnis auf seiten der Laien ein gewisses Gegengewicht gegen die diktatorischen Tendenzen des Klerus. Für die Katholiken — Geistliche sowohl als auch Laien — ist die Bibel immer noch etwas Fremdes, trotz gelegentlicher Bemühungen, die verhärtete Kruste der Gleichgültigkeit, ja der dumpfen Feindseligkeit ihr gegenüber zu durchbrechen. Die — viel zu schnell absolvierte — Lesung von je einem winzigen Ausschnitt aus den Episteln und Evangelien während der Messe bleibt nur eine Formalität, und die nachfolgende Predigt nimmt, auch wenn sie sich heute „Homilie“, das heißt Bibelauslegung, nennt, im allgemeinen inhaltlich kaum darauf Bezug — vorausgesetzt, daß sie überhaupt einen Inhalt hat.

Vielen Geistlichen aber reichen diese Selbstherrdichkeiten noch lange nicht. Nicht genug damit, daß sie mit den biblischen oder liturgischen Texten, die von oft sehr tendenziösen Übersetzungen möglichst schon für den Zeitgeschmack zurechtgefeilt sind, nach Belieben umspringen, beanspruchen sie auch noch die Freiheit, die Gebete zu improvisieren.

Die Kleriker haben allerdings nicht das Monopol auf Gehirnwäsche in der Kirche von heute. Die viel zu vielen „militanten“ Laien, die im Handumdrehen zu Neoklerikern geworden sind, stehen ihnen darin in nichts nach. Es gibt jedoch immer noch unzählige Gläubige, die diesen Betrieb nicht mitmachen, die keiner „Bewegung“ angehören, sondern nur versuchen, manchmal mit großem Herosimus, das Evangelium in ihrem Dasein zu verwirklichen und ihr sittliches Leben nach den althergebrachten Lehren der Kirche auszurichten. Es ist einer der bemerkenswertesten, wenn auch kaum bemerkten Züge der Enzyklika „Humanae vitae“, daß sie gerade diese Menschen den Pfarrern besonders ans Herz legt und sie auf eine Weise tröstet und bestärkt, wie sie es schon nicht mehr zu hoffen wagten. Das’ wiederum reizte eine gewisse Sorte von sozusagen „professionellen“ Laien zum Zorn, die sich anmaßen, im Namen aller Gläubigen zu sprechen und sich nicht darüber beruhigen können, daß die Kirche sich durch diese unauffällige Schar der Getreuen möglicherweise besser repräsentiert fühlt als durch sie.

Dieser Beitrag ist dem Buch des französischen Oratorianers Louis Bouyer „Der Verfall des Katholizismus“, erschienen im Kösel-Verlag, München, entnommen. Wir werden aus dem genannten Werk noch weitere Beiträge abdrucken.

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