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Beschreibung einer Prozession"

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Im Jahr 1966 feierte der Autor das Osterfest in der Kirche des orthodoxen Patriarchen in Peredelkino. Sein Bericht zeichnet das genaue Bild „einer Kreuzprozession ohne Betende in Mützen, mit Zigaretten, mit Transistoren vor der Brust". Der Bericht stammt aus dem Novellenband „Im Interesse der Sache" (Luchterhand-Verlag, Neuwied).

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Im Jahr 1966 feierte der Autor das Osterfest in der Kirche des orthodoxen Patriarchen in Peredelkino. Sein Bericht zeichnet das genaue Bild „einer Kreuzprozession ohne Betende in Mützen, mit Zigaretten, mit Transistoren vor der Brust". Der Bericht stammt aus dem Novellenband „Im Interesse der Sache" (Luchterhand-Verlag, Neuwied).

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Es lehren uns heute die Kenner, nicht alles zu malen, wie es ist, dies wäre farbige Fotografie — vielmehr sei mit verzerrten Linien und ineinandergefügten Dreiecken und Quadraten die Idee einer Sache wiederzugeben und nicht die Sache selbst.

Ich aber vermag nicht, mir auszudenken: Welche Farbaufnahme wählte für uns mit Verstand die notwendigen Gesichter und bannte auf ein einziges Bild die Oster-prozession vor der Patriarchenkirche in Peredelkino, ein halbes Jahrhundert nach der Revolution? Allein dieser österliche, heutige Umzug würde uns vieles erklären, gestalteten wir ihn auch mit ältesten Kunstgriffen, ganz ohne Hilfe der Dreiecke sogar.

Eine halbe Stunde vor dem Geläut gleicht der Vorhof der Ver-klärung-Christi-Kirche dem Rummelplatz vor dem Tanzboden in einer abgelegenen, ausgelassenen Arbeitersiedlung. Die jungen Dinger in bunten Kopftüchern und langen Hosen — wohl auch einige in Röcken —, allesamt mit kräftigen Stimmen, spazieren zu dritt, zu fünft umher, drinnen in der Kirche eine Schar, eine andere in der Vorhalle, wo ein paar alte Weiblein seit dem frühen Abend Plätze besetzt halten — die werden im Vorbeigehen angekläfft —, und draußen, da kreisen sie um den Hof, quietschen ungeniert und hemmungslos, rufen einander von weitem an und bestaunen die grünen, rosaroten, weißen Lichter vor den äußeren Wandikonen und den Grabplatten vieler Erz- und Oberpriester.

Und die Burschen—die stämmigen und die schwächlichen —, sie tragen durchweg siegreiche Mienen (wen bezwangen sie denn mit ihren achtzehn oder zwanzig Jahren? Es sei denn mit dem kleinen Puck das Tor). Fast alle haben Kappen, Mützen auf, und wer barhäuptig geht, der tut es nicht nur hier, der geht halt immer so; jeder vierte ist angeheitert, jeder zehnte betrunken, jeder zweite raucht, raucht widerwärtig, der Stummel klebt an der Unterlippe fest.

Noch vor dem Weihrauch, statt des Weihrauchs steigt im elektrischen Licht graublauer Rauch auf, vom Kirchplatz zum österlichen Himmel, den dunklen reglosen Wolken entgegen. Da spucken sie auf den Boden, dort rempeln sie sich übermütig an, da Pfiffe und dort lästerliches Fluchen; die einen heizen mit Transistoren zum Tanzen an, und die dort knutschen ihre Puppen ab, mitten im Durchgang, zerren die Mädchen vom anderen weg, plustern sich auf wie die Hähne — gib nur acht, daß sie das Messer nicht ziehen: gegeneinander zuerst und dann gegen die Gläubigen auch.

Die Jungen blicken um sich, als wären sie nicht die Jüngeren vor den Älteren, nicht Gäste bei Bewirtenden, sondern die Hausherren, für die die Umstehenden lästig wie Fliegen sind. Zum Messer kommt es nicht — drei, vier Milizmänner stapfen anstandshalber umher. Und der Mutterfluch wird nicht über den Hof gebrüllt, er wird im Ton gedrosselt, zum herzhaften russischen Zwiegespräch. So sieht denn auch die Miliz keinen Mißstand und lächelt der heranwachsenden Generation friedfertig zu. Mitnichten ist es Sache der Miliz, Zigaretten von den Lippen oder Mützen von den Köpfen zu schlagen. Wir befinden uns auf der Straße, und das Recht, nicht an Gott zu glauben, verbrieft die Verfassung.

Verloren im Gedränge drücken sich die Gläubigen an die Umfriedung des Kirchplatzes, an die Mauern der Kirche, kein Gedanke an Widerstand, nur angstvolles Umherblicken; froh sind sie, nicht angerempelt zu werden, zufrieden schon, daß man ihnen nicht die Uhren abverlangt, von denen sie die Minuten ablesen bis zur Auferstehung Christi. Hier, außerhalb des Gotteshauses, ist ihre, der Gläubigen, Zahl um vieles geringer als die der feixenden, spottenden, drängelnden Freibeuter. Bedrückt sind die Gläubigen und eingeschüchtert, ärger als unter den Tataren. Die Tataren haben gewiß der lichten Frühmesse nie derart zugesetzt.

Der Bereich des Gesetzlosen wird nicht betreten, die Gewalttat ist unblutig, die Kränkung trifft die Seele, die vulgär verzogenen Münder, das dreiste Gerede, das Geknutsche und Gerupfe, das Rauchen und Spucken keine zwei Schritte von der Passion Christi entfernt; der siegessichere, verächtliche Blick, mit dem die Flegel auszogen, um mitanzusehen, wie ihre Großväter die Bräuche der Ahnen pflegen.

Hier und da taucht unter den Gläubigen ein jüdisches Gesicht auf. Ob Getaufte oder Fremde, verängstigt blicken sie drein und harren, auch sie, der Prozession. Auf die Juden schimpfen wir alle, die Juden sind uns immerzu ein Dorn, doch besser wär's, sich umzusehen mit Bedacht — was für Russen haben wir uns derweil herangezogen? Du schaust in die Runde und erstarrst.

Das sind doch, will man meinen, nicht mehr die Schläger der dreißiger Jahre, nicht mehr jene, die den Gläubigen den geweihten Osterkuchen aus den Händen rissen und johlend den Teufel spielten - nein! Diese hier trieb die Neugierde her: Vorbei ist die Hok-keysaison im Fernsehen, die Fuß-ballsaison hat noch nicht begonnen. Langeweile! Darum drängen sie zum Kerzenstand und schieben die Christenmenschen wie Strohsäcke auseinander und kaufen, auf das Kirchenbusiness schimpfend, wer weiß wozu, die Kerzen.

Seltsam ist nur: Alle kommen sie von auswärts, und doch kennt jeder den anderen, selbst seinen Namen. Wie konnte sich das nur so treffend fügen? Stammen sie nicht gar vom selben Werk? Spaziert nicht gar der Komsomolleiter unter ihnen? Sollten ihnen diese Stunden als Ordnungsdienst angemerkt werden?

Da schlägt über den Häuptern die Glocke mit mächtigen Schlägen - volle tiefe Töne, kein blechernes Ersatzgebimmel. Die Glocke tönt und kündet die Prozession an.

Nun ein Drängen! Doch nicht die Gläubigen sind's, nein, wieder ist's die grölende Schar. Doppelt und dreifach so zahlreich stürmen sie in den Hof, laufen, drängen, wissen selbst nicht, was sie suchen, welchen Platz sie sich freikämpfen sollen, um die Prozession besser zu sehen. Sie zünden die roten Osterkerzen an und daran ihre Zigaretten, so sieht das aus! Sie stoßen einander, wie in Erwartung eines Foxtrotts.

Uber die Kirchenstufen herab schreitet indes das Haupt der Prozession und schwenkt hierher, begleitet vom feinen Geläut der Gebetsglocke. Voran zwei gewichtige Männer, sie bitten die jungen Genossen zurückzutreten, soweit es geht. Drei Schritte dahinter folgt ein kahles ältliches Männlein, wohl der Kirchertvorsteher, t und trägt schwer an der Stange, die geschliffene Ampel mit der Kerze daran. Er schielt ängstlich zur Ampel hinauf, ob sie auch gerade hänge, und ebenso ängstlich zur Seite...

Und hier beginnt das Bild, das ich so gerne malen würde, wenn ich es könnte: der Ampelträger, fürchtet er vielleicht, daß ihn die Erbauer der neuen Gesellschaft zu Boden trampeln, daß sie ihn prügeln werden? Das Grauen überkommt auch den Betrachter.

Die jungen Weibsbilder in Hosen und mit Kerzen und die Burschen mit Zigaretten zwischen den Zähnen, den Kopf bedeckt, die Mäntel offen (Gesichter ohne Prägung, dumm, dreist. Selbstsicherheit für einen Rubel und Verstand für fünf Kopeken, einfältige darunter mit kindlich vollen Lippen und zutrauliche — eine Menge solcher Gesichter soll aufs Bild), ein dichtes Spalier, so begaffen sie eine Vorstellung, wie sie sonst auch für Geld nirgends zu sehen ist.

Hinter der Ampel schwanken zwei Banner, nicht einzeln, jedes für sich, sondern eng beieinander in ihrer Bedrängnis.

Und dahinter, in fünf Reihen zu zweit, zehn singende Frauen mit dicken Kerzen. Sie alle gehören aufs Bild! Die Frauen, schon in Jahren, mit festen, weitabgewandten Gesichtern, bereit, auch zu.sterben, wenn die Tiger auf sie losgehen, und zwei von den zehn sind junge Mädchen, Mädchen, so alt wie jene, die mit den Burschen rundum sich drängen, doch wie rein ist ihr Gesicht, wie hell der Glanz darauf.

Die Frauen ziehen singend in geschlossener Reihe. Feierlich sind sie, als schritten sie durch eine Gemeinde, die betet, das Kreuz schlägt, bekennt, aufs Knie sinkt. Diese Frauen atmen nicht den Tabakrauch, ihre Ohren sind taub für die Flüche, ihre Sohlen fühlen nicht, daß sich der Kirchhof in einen Tanzplatz verwandelt hat.

So nimmt die wahre Osterpro-zession ihren Anfang. Etwas davon erfaßt auch die jungen Wilden zu beiden Seiten; der Lärm läßt nach.

Den Frauen folgen, in hellen Ornaten, die Priester und Diako-ne, sieben an der Zahl. Doch wie beengt sie gehen, wie sie einander stoßen, einander stören: kaum bleibt Platz, den Weihrauchkessel zu schwingen, das Gebetbuch zu heben. Und hier hätte — wäre ihm nicht abgeraten worden — der Patriarch von ganz Rußland durchgehen und zelebrieren sollen!

Zusammengepfercht und hastig ziehen sie vorbei; und damit schließt die Prozession. Da gibt es niemanden mehr! Keine Kirchgänger sind im Umzug, denn ein Durchbruch zurück in die Kirche gelänge nicht mehr.

Keine Betenden mehr, doch schon beginnt das Getümmel von neuem, die fröhliche Horde will auch hinein! Wie durch die zertrümmerten Tore eines Lagerhauses zwängen sich, stoßend und pressend, die Burschen und Mädchen, scheuern vorbei an den steinernen Säulen, vorwärts, rückwärts, kreisen im wirbelnden Strom und überstürzen sich, als gelte es, die Beute zu fassen, das Geraubte zu teilen — und wozu? Sie wissen es selbst nicht. Die Popen begaffen und ihren Hokuspokus? Oder einfach herumrudern in der Menge?

Eine Kreuzprozession ohne Betende! Eine Kreuzprozession ohne Sich-Bekreuzigende! Eine Kreuzprozession in Mützen, mit Zigaretten, mit Transistoren vor der Brust - die ersten Reihen dieses Publikums, wie sie sich hineinzwängen in die Umfriedung —, das muß auch noch aufs Bild. Und damit wäre es vollständig.

Abseits bekreuzigt sich eine der Alten und sagt zu ihrer Nachbarin: „Diesmal ist's schön, gar kein Radau, und so viel Miliz..."

So ist das also! Dies Jahr ist noch ein besseres Jahr... Was soll denn aus diesen von uns geborenen und aufgezogenen Millionen werden? Wozu die aufklärerischen Bemühungen und die tröstlichen Prophezeiungen grübelnder Geister? Was erwarten wir Gutes von unserer Zukunft?

Wahrlich, eines Tages werden sie sich wenden und uns alle zertreten; und auch jene nicht verschonen, die sie hierhergehetzt!

Deutsch von Elisa Harm

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