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BESCHWORUNG DER MYTHEN

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Der sagenhafte Rütlischwur Anfang August 1291 steht am Beginn der Schweizer Eidgenossenschaft. Dieses Mythos wird heuer gedacht: 700 Jahre Schweiz, obwohl der Bundesstaat erst 1848 Wirklichkeit wurde.

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Der sagenhafte Rütlischwur Anfang August 1291 steht am Beginn der Schweizer Eidgenossenschaft. Dieses Mythos wird heuer gedacht: 700 Jahre Schweiz, obwohl der Bundesstaat erst 1848 Wirklichkeit wurde.

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700 Jahre Schweiz sind den Organisatoren des Jahresspektakels um Marco Solari Grund genug, tief in die Kiste von unübertreff-baren Festideen zu greifen. Durchschnittlich drei Veranstaltungen pro Tag halten die Festgemeinde in Trab.

Draußen in der Natur findet einer der (vielen) Höhepunkte statt: Kinder aus allen 3.072 politischen Gemeinden der Schweiz „wandern und fahren sternförmig auf das Rüth zu”, wo zu ihnen, der prächtigen Zukunft des Landes, in einer „kindgerechten Feier” zum Tag der Jugend (30./31. Juli) Bundespräsident Flavio Cotti (Innenminister, von der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP) sprechen wird. Auch dessen zweite Ansprache, die 1.-August-Ansprache, sollen sie in Empfang nehmen und gleichentags in die Welt tragen, in ihre jeweiligen Gemeinden, wo die Botschaft von den lokalen Festhonoratioren dann einer möglichst breiten Öffentlichkeit vorgelesen werden sollen.

Rund um den Tag der Jugend ein weiterer Höhepunkt: Uraufführung des frisch zusammengebrauten „Mythenspiels” von Herbert Meier, Teilspiel in Altdorf, eine historische Wehrschau, gesponsert von den Versicherungen (Vorsorgen muß sein), Defi-lee der Kirchen (Gebet der Moslems, Meßfeiem), Defilee der, Armee 2000” mit 22.000 Mann, 500 Pferden, 2.000 Panzern und Fahrzeugen sowie mit 140 Kampfflugzeugen.

Feste werden gefeiert, wie sie gefällt werden, der Bund läßt sich nicht lumpen und schüttet festliche 65 Millionen Franken Steuergelder aus, mit den sonstigen Geldern sind es 90 Millionen Franken, die für das Superfest verwendet werden. Private Sponsoren tragen mehr als zehn Millionen Franken zum Festfüllhorn bei. Die Kantone steuern noch einmal 80 bis 90 Millionen Franken bei, bloß sind die entsprechenden Kredite noch etwas umstritten.

Ähnlich wie Österreich - 1996 bei der Tausendjahrfeier werden wir es sehen und spüren - wird an die Schweiz mit vielen Klischeerastern herangegangen. Orson Welles ätzte schon in seinem „Dritten Mann” über die Schweizer, die nichts anderes als die Kuckucksuhr erfunden hätten (übrigens hat sich der letzte lebende Kuk-kuck von der Schweiz schon verabschiedet; es gibt in dem Land keine „Raubwürger” - so die Artbezeichnung - mehr). Und jetzt tragen die Schweizer dazu bei - auch Österreich wird dies in fünf Jahren vermutlich nicht anders handhaben - , die Klischees zu verfestigen.

Weltoffene Schweiz

Dabei könnte man angesichts des aufwachsenden neuen Europa doch nachdenken über die Bedeutung des

Prinzips der Selbstbestimmung der Schweiz, das zur direkten Demokratie und einem unabhängigen Staat geführt hat. Sonst verkommt die Feier des Längstvergangenen zu einer tourismusfreundlichen Aktivität, deren Bilanz keinerlei politische, sondern bloß finanzielle Aspekte aufzuweisen hat.

Angesichts des Tages der internationalen Beziehungen, der am vergangenen Freitag, 14. Juni, in Anwesenheit des Diplomatischen Korps, Vertretern ausländischer Regierungen, insbesondere der Nachbarländer der Schweiz -auch Außenminister Alois Mock war dabei - in Bern eine weltoffene Schweiz präsentieren wollte, stellt sich die Frage, wie es Österreichs etwas kleinerer Nachbar -der uns aber in vielem Vorbild ist. dessen Erfolge wir nicht selten neidisch zur Kenntnis nehmen - mit der internationalen Verantwortlichkeit hält. Der Österreich oft gemachte Vorwurf, sich durch die Neutralitätspolitik sicherheitspolitisch zu sehr bedeckt zu halten, gilt, der finanziellen und wirtschaftlichen Verflechtungen wegen, noch viel mehr für die Schweiz.

Neuestens haben die europäischen Ansprüche an die Schweiz - wirtschaftliche Anpassung, Öffnung der Transitwege, politischerGleichklang, sicherheitspolitische Aktivitäten - zu einer Identitätskrise unseres Nachbarn geführt. Die „Neue Zürcher Zeitung” faßt das so zusammen: „Man ist zwar stolz auf die erfolgreiche Selbstbehauptung des Kleinstaates Schweiz in einem an Kriegen und Konflikten reichen Europa während Jahrhunderten, aber man leidet an der Ungewißheit über den schweizerischen Weg in die Zukunft und unter dem Zweifel, ob man das politisch Eigene, die direkte Demokratie, den Föderalismus, die Neutralität in einem integrierten Europa bewahren kann oder verliert.”

Umfassend internationalisiert

Für den Weg der Schweiz in eine sichere Zukunft gibt es aber - ebensowenig wie für Österreich und jedes andere Land - keine Assekuranzen, an denen das Land so reich ist. „Ein Haus ist eine Handvoll Asche, darauf wagen sorgfältige Kapitalisten keine Darlehung. Ein assekuriertes Haus ist so viel wie bares Geld.” Diese Versicherungsmaxime des Pfarrers Johann Heinrich Waser, mjt der er 1777 der Stadt Zürich die Errichtung einer Feuerkasse empfahl, wird sich auf das geplante „Haus Europa” wohl nicht so leicht anwenden lassen. Auch die Schweiz kann nicht in ihrem kleinen Zimmer im „Haus Europa” bleiben, sie muß in anderen Räumen Nachschau halten, mit Nachbarn Kontakte pflegen, große Räume gemeinsam nutzen - und sich selbst auch hineinsehen lassen.

Der kleine Binnenmarkt, der Mangel an Rohstoffen sowie die geographische Lage ohne Zugang zum Meer, zwingen die Schweizer Firmen zur Tätigkeit im Ausland, 81 Prozent der Mitarbeiter der 15 größten international tätigen Schweizer Industriebetriebe (insgesamt 757.000 Beschäftigte) werken außerhalb der Landesgrenzen. Nahezu jeder zweite Franken, der in der Schweiz verdient wird, stammt aus dem Ausland. Kaum ein anderes Land ist heute so umfassend wirtschaftlich internationalisiert wie die Schweiz. Die schweizerische Wirtschaftsstruktur ist außerdem durch einen starken Konzen-tratiönsprozeß gekennzeichnet - besonders im Bereich der Nahrungsmittel-, der Maschinen- und der chemischen Industrie. Alles Voraussetzungen für eine optimale wirtschaftliche Eingliederung in die EG-

Trotzdem: Wo der Wille des Volkes noch nicht dazu bereit ist - und das Wühlen in den Mythen der Vergangenheit beim 700-Jahr-Spektakel könnte vielleicht eine gewisse politische Eigenbrötlerei verstärken - ,da beißen sich Politiker und Wirtschaftsexperten mit ihren Integrationsanstrengungen die Zähne aus.

Deswegen fordert auch die „Neue Zürcher Zeitung” von der EG - welches von Österreichs eher auf die EG abfahrenden Medien bedenkt das? -„umsichtiges Vorgehen” mit jenen europäischen Staaten, die noch nicht Mitglied der Brüsseler Gemeinschaft sind. Mit anderen Worten: Die führende Schweizer und internationale Tageszeitung exerziert Selbstbewußtsein eines kleinen Landes vor. Das Offenlassen politisch und wirtschaftlich akzeptabler Wege einer späteren Integration für die Noch-Nicht-Mit-glieder heißt für die „Neue Zürcher”, „sicherheitspolitische Konzepte wie die bewaffnete Neutralität, die genau jenem Frieden dienen, den auch die Begründerder Europäischen Gemeinschaft im Auge hatten, nicht a priori mit EG-Integration für unvereinbar zu erklären”. Merk 's EG, merk 's Schweiz, merk 's Österreich!

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