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Besiegte Ängste

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Auch Polen und der ganze Ostblock stehen im Zeichen der Theologie der Befreiung. Franciszek Blachnicki, Begründer einer kirchlichen Erneuerungsbewegung, die mittlerweile mehr als 350.000 polnische Katholiken erfaßt hat („Licht-Leben“) betonte bei einem Vortrag in Wien jedoch, daß es um eine Befreiung im Geiste gehe. Eine Wortspielerei?

Durchaus nicht: Im Gegensatz zu manchen Theologen in Lateinamerika lehnen Christen im Osten verständlicherweise jede Anleihe beim Marxismus ab. Wer den Klassenkampf — und damit den Klassenhaß — als Grundgegebenheit in sein Denken einbaut, vertritt nämlich von Anfang an einen in sich widersprüchlichen Ansatz. Denn wer haßt, ist in seinem Herzen versklavt und kann sich nicht ungeteilt in den Dienst an der Freiheit stellen.

Diese Klarstellung wertet jedoch keineswegs die aufopfernden Bemühungen zahlloser Christen im weltweiten Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung ab. Denn Befreiung ist ein zentrales Anliegen der christlichen Botschaft. Allerdings geht es heute um eine Art von Revolution, um eine, die keine Barrikaden errichtet, die nicht bestehende Gewalt mittels Gegengewalt zu brechen versucht.

Gewaltverzicht ist daher ein Schlüssel für die Revolution, die heute allein Erfolg bringen kann. Auf den Philippinen konnten wir erst vor kurzem erleben, daß dieser Weg mehr als Schwärmerei ist. Sie hatte vielmehr handfeste politische Folgen, diese Rosenkranzrevolution.

Ähnliches sei im Osten nicht ausgeschlossen, wenn auch die zu überwindenden Hindernisse unvergleichlich höher seien, meint Blachnicki: „Im Osten spielt sich derzeit eine der bedeutungsvollsten Perioden der Menschheitsgeschichte ab, vergleichbar den ersten christlichen Jahrhunderten.“ Nur nehmen wir Ahnungslose es hier im Westfn kaum wahr.

Hin und wieder dringen Nachrichten von religiösen Verfolgungen an unser Ohr. Aber wir legen

— im Verdrängen ja äußerst geübt

— diese unangenehmen Meldungen rasch beiseite und pflegen friedliche Koexistenz und Status quo. Wird der Druck einmal zu groß, wie 1981 in Polen, raffen wir uns zu Hilfsaktionen auf — die fraglos ihren Wert haben. Sie bestärken uns aber auch in der irrigen Meinung, daß wir die Geber und die Armen im Osten die Empfänger seien.

Diese Sicht gilt es zu revidieren. Denn die Verfolgten im Osten kämpfen unseren Kampf. Inwiefern jedoch?

Immer zahlreicher werden jene, die sich ganz der Wahrheit und ihrer Verkündigung verschreiben. Sie rütteln damit an der Basis der totalitären Regime, deren Macht auf zwei Säulen ruht: der Angst 'und der Lüge. Gelogen werden muß im Totalitarismus, weil nackte Machtausübung das eigentliche Anliegen der Herrschenden ist. Diesem Streben muß aber ein Mäntelchen der Wohlanständigkeit umgehängt werden: die soziale Gerechtigkeit, die klassenlose Gesellschaft, das Schlaraffenland für jedermann.

Solange alle mitspielen — das Regime sorgt mit Druck dafür -, funktioniert das Werkel recht und schlecht. Wer aber dieses Lügengespinst entlarvt, wird verfolgt, verbannt, eingesperrt, getötet -trotz aller internationaler Abmachungen ...

Immer mehr Menschen, besonders gläubige Christen, überwinden nun ihre Angst vor Verfolgung und sind bereit, für die vom Regime mit Füßen getretene

Wahrheit zu leiden. Sie erlangen damit Freiheit im höchsten Maß: die Freiheit, trotz Verfolgung zu der von ihnen erkannten Wahrheit zu stehen. Dazu Blachnicki: „Der Mensch ist frei, wenn er den Mut hat, die Wahrheit zu bezeugen und zu leben, ungeachtet der Leiden und Opfer, welche er aufbringen muß.“

Und er weiß wovon er redet: Er war in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, war zum Tode verurteilt, wurde später von den Kommunisten verfolgt und eingesperrt.

Diese Befreiung im Geist trifft ein Regime ins Mark. Bezeugen doch Menschen, daß dem totalen staatlichen Machtanspruch Grenzen gesetzt sind.

Mit der Angstlosigkeit ist es jedoch nicht getan. Schier Ubermenschliches ist außerdem zur Verwirklichung dieser Revolution gefordert: Verzicht auf Rache und Bereitschaft zur Vergebung. Darüber läßt sich zwar leicht akademisch plaudern. Wer es aber leben will, wird es wohl nicht ohne die Kraft Gottes zustande bringen.

Befreiung im Geiste wird so zur Voraussetzung der politischen Befreiung, die im Osten zwar nicht greifbar, aber auch nicht unmöglich ist. Immerhin mußte das Regime in Polen schon die Rettungsleine ziehen. Und selbst in der seit fast 70 Jahren atheistisch indoktrinierten Sowjetunion ist die Welle christlicher Erneuerung trotz Verfolgung nicht aufzuhalten.

Geht uns im Westen all das etwas an? Verstellen uns nicht auch Korruption, Zynismus, Wissenschaftsgläubigkeit oder Schamlosigkeit die Sicht auf die Wahrheit unserer Existenz?

Die Propheten im Osten kämpfen deswegen unseren Kampf, weil sie bezeugen, daß Leben mehr ist, als dieses Miniglück der Wohlstandsgesellschaft.

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