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Besinnung in Italien?

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Die Italiener der Ober- und Mittelschicht, die sich in den letzten Jahren in stets wachsender Zahl noch vor dem „großen Auszug“ aus den Städten um den „Ferragosto“ in die wohlverdienten Ferien begeben haben, können diesmal keine ungestörten Urlaubsfreuden genießen. Denn fast jeden Tag erfahren sie aus den Zeitungen — das staatliche Fernsehen befleißigt sich hingegen einer mit Recht in der Öffentlichkeit immer heftiger kritisierten Schönfärberei — von überaus pessimistischen, aber leider im Tenor stets übereinstimmenden Berichten und Urteilen des Auslands über die italienische Wirtschaftssituation.

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Die Italiener der Ober- und Mittelschicht, die sich in den letzten Jahren in stets wachsender Zahl noch vor dem „großen Auszug“ aus den Städten um den „Ferragosto“ in die wohlverdienten Ferien begeben haben, können diesmal keine ungestörten Urlaubsfreuden genießen. Denn fast jeden Tag erfahren sie aus den Zeitungen — das staatliche Fernsehen befleißigt sich hingegen einer mit Recht in der Öffentlichkeit immer heftiger kritisierten Schönfärberei — von überaus pessimistischen, aber leider im Tenor stets übereinstimmenden Berichten und Urteilen des Auslands über die italienische Wirtschaftssituation.

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Und wenn die Italiener selbst, besonders die in erster Linie betroffenen Wirtschaftstreibenden, aus eigener unmittelbarer Anschauung die kritische Lage nur allzugut kennen, ist es doch für das nationale Selbstbewußtsein ein schwerer und nach den großartigen Aufbauleistungen der unmittelbaren Nachkriegszeit als ungerecht empfundener Schlag, wenn die italienische Wirtschaft in einem Chor der Stimmen und Berichte — von den Analysen der EWG und OECD bis zu besorgten Artikeln der amerikanischen, englischen, französischen und deutschen großen Blätter — übereinstimmend als „der kranke Mann“ der EWG und allgemein der europäischen Wirtschaft bezeichnet wird. Dazu kommt noch, daß auch die führenden Wirtschaftspolitiker Italiens selbst in immer schärferen Tönen und mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt, ihre warnenden Stimmen erheben, und zwar nicht nur Autoritäten, wie der Gouverneur der „Banca d’Italia“, Carli, oder der republikanische Parteiführer La Malfa, die schon seit längerer Zeit die undankbare Aufgabe der wirtschaftspolitischen „Kassandra“ übernommen haben, sondern auch eben erst wieder der Präsident der IRI, der Organisation der verstaatlichten Wirtschaft, Petrilli, der Finanzminister Preti bei der Bekanntgabe des alarmierenden Rückgangs der Steuereinnahmen im ersten Halbjahr 1971 und nicht zuletzt auch der Ministerpräsident Colombo, ja seit neuestem auch sogar die Kommunisten. Nur in Kreisen der außerparlamentarischen Linken, der „gruppuscoli“ (Grüpp- chen) des Linksradikalismus, wo man die eigene infantile Revolutionsspielerei durch die um sich greifende Einsicht und Ernüchterung gerade auch der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften gefährdet sieht, macht man hilflose Versuche, diesen Chor der mahnenden und warnenden Stimmen als „Alarmismus“ zu bagatellisieren und zu ironisieren.

Tatsächlich zeigt sich jetzt, daß die soziale Lizitationspolitik der miteinander rivalisierenden kommunistischen, sozialistischen, sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften (CGIL, UIL, CISL), zu denen an den äußersten Flügeln noch die neofaschistischen (CISNAL) und linkssezessionistischen (CUB) kommen, die gelegentlich sogar, wie jüngst am römischen Hauptbahnhof, Zusammenarbeiten, vor allem durch die hemmungslose Streiklust, die verlorene Arbeitszeit, das Mißtrauen des Auslandes und den verständ lichen Rückgang der Einsatzfreude auf Unternehmerseite der italienischen Wirtschaft einen Schaden zugefügt hat, von dem man sich kaum vorstellen kann, wie er in absehbarer Zeit wieder gutgemacht werden kann. Denn die ausländische Konkurrenz hat dieses Handicap der italienischen Wirtschaft begreiflicherweise zu ihrem Vorteil auszunutzen verstanden. Am deutlichsten zeigt sich das, gerade jetzt im Sommer, auf dem Gebiet des für die italienische Wirtschaft immer wichtiger gewordenen Fremdenverkehrs, nicht minder bedenklich aber auch in vielen anderen Wirtschaftszweigen. Gerechterweise muß man allerdings feststellen, daß zwar wohl die Hauptschuld bei den Gewerkschaften und vor allem den Gewerkschaftsführern liegt, daß aber auch auf Unternehmerseite, vor allem aber bei den politischen Parteien und hier in erster Linie bei den Regierungsparteien der „Mitte- Links“-Regierung schwerwiegende Fehler gemacht wurden.

Linke Überholmanöver

Das gilt in erster Linie auch vom italienischen Linkskatholizismus, der sich durch das Zweite Vatikanische Konzil und die „apertura a sinistra“ veranlaßt sah, ein hektisches linkes Überholmanöver gegenüber den Linksparteien zu organisieren, dessen jüngstes innenpolitisches Ergebnis der „Rechtsruck“ bei den Regional- und Kommunalwahlen des 13. Juni, mit seinen alarmierenden Stimmengewinnen des neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Ita- liano) auf Kosten der Democristiani, vor allem in Rom und Sizilien war. Gewiß handelt es sich hier in erster

Linie um „Denkzettelwähler“, die der Democrazia Oristiana klar machen wollten, daß ihre breiten konservativen Wählerschichten nicht bereit seien, eine Politik des Flirts mit den Kommunisten mitzumachen. Aber die Neofaschisten unter ihrem höchst geschickten, fuchsschlauen Führer Giorgio Almirante (ehemaliger Gymnasialprofessor, Funktionär in Mussolinis letztem Propagandaministerium zur Zeit der „Sozialen Republik“ von Salö 1943 bis 1945 und Sohn eines bekannten Schauspielers) haben gezeigt, daß sie die Chance zu nützen wissen, die ihnen der linke Flügel der DC mit seiner Politik der „radikalen sozialen Phrase“ gratis und franko ins Haus geliefert hat. Sie haben sich dem mit Recht besorgten und erschreckten italienischen Bürgertum als „Partei der Ordnung“ und der „schweigenden Mehrheit“ zu empfehlen gewußt, «zumindest äußerlich vielen Traditionen der faschistischen ‘‘Diktatur abgeschworen (bezeichnend hier vor allem Almirantes feierliches Bekenntnis zur Pressefreiheit „unter jedem Regime“) und damit einen Teil der nationalen Traditionen des Risorgimento und sogar der Monarchie des Hauses Savoia für sich aus nützen können. Vor allem aber haben sie kräftige Anleihen beim gaullistischen Beispiel (etwa mit ihrer Forderung nach einer „Präsidialrepublik“) gemacht.

Gewiß wäre es falsch, wollte man, wie manche besorgte Auslandsstimme bereits meinte, nach dem Rechtsruck vom 13. Juni das Gespenst eines neuen „Marsches auf Rom“ und einer unmittelbar bevorstehenden Rechtsdiktatur an die Wand malen. Die etwas kläglich wirkende Nachgiebigkeit des christlichdemokratischen Fraktionsführers im Parlament, Andreotti, in einer Fernsehdiskussion mit Almirante — die einen Sturm der Entrüstung nicht nur auf der Linken, sondern auch in der bürgerlichen Mitte der „democrazia laica“ hervorrief — hatte wohl vorwiegend (wie Andreotti dann auch entschuldigend und glaubwürdig versicherte) taktische Gründe, um die an den MSI verlorengegangenen Stimmen wiederzugewinnen. Sie fand ihr Gegenstück in den überraschenden Komplimenten, die der sozialistische Parteisekretär Mancini, wenige Tage später, in einer Fernsehdiskussion mit Journalisten, an die Adresse der bisher von der gesamten Linken (einschließlich der linken DC) als „reaktionär“ verteufelten Liberalen, als Partei der „parlamentarischen Würde“ und demokratischen Zuverlässigkeit richtete. Wohl ist auf die seit mehr als einem Jahrzehnt in der DC vorherrschende Linkstendenz unter dem Eindruck der Stimmenverluste vom 13. Juni auch ein innerparteilicher „Rechtsruck“ erfolgt; aber die von den Linkskreisen an die Wand gemalte Gefahr einer Rechtskoalition (Monarchisten, Neofaschisten und eine nach rechts abrutschende DC, womöglich noch unter Einschluß der Liberalen) ist noch weit irrealer als die in Kreisen der „democrazia laica“ bis hin zu den Sozialdemokraten seit Jahren immer wieder an die Wand gemalte Gefahr der „Republica conciliare“, eines Zusammengehens von DC und Kommunisten.

Tradition des Risorgimento

Es zeigt sich eben immer wieder, was De Gasperi wußte, was aber die superklugen Schüler des großen

Staatsmannes nicht wahrhaben wollten: daß die Democrazia cristiana nur als große katholische Volkspartei der Mitte wirklich glaubwürdig und erfolgreich bleiben kann und daß die von De Gasperi gefundene und konsequent festgehaltene Lösung des

„Centrismo“, einer Koalition mit den drei kleinen Parteien der „democrazia laica“ (Liberale, Republikaner und Sozialdemokraten), die die Traditionen des Risorgimento und der Epoche von 1871 bis 1922 verkörpern, die einzige ist, die sowohl der geschichtlichen Entwicklung wie der gegenwärtigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation Italiens entspricht. Die Hoffnung ist allerdings nicht sehr groß, daß es in absehbarer Zeit — angesichts der politischen und verfassungsrechtlichen „Flaute“ vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember und der unglückseligen Entwicklung des Streits um die Einführung der Ehescheidung in Italien — zu einer solchen Klärung und Konzentration aller aüfbauwilligen und staatserhaltenden Kräfte, von den Liberalen bis zu den Sozialisten, aber zumindest bis zu den Sozialdemokraten und Republikanern kommen könnte. Erst dann würde es nämlich möglich sein, die so oft versprochenen, bisher aber immer wieder steokengebliebenen sozialen Reformen wirklich durchzuführen, ohne daß man, wie es bis jetzt geschehen ist, die Milchkuh, die italienische Wirtschaft, durch das ständige Gerede von einer bevorstehenden Notschlachtung so verschreckt, daß sie aufhört zu fressen und Milch zu geben. Denn wie so oft in der Wirtschaftsgeschichte ist auch die gegenwärtige italienische Wirtschaftskrise primär eine Vertrauenskrise, der mit äußerlichen, technizistischen Hausmittelchen, wie sie die „Mitte- Links“-Regierumg Colombo soeben mit ihren fünf konjunkturpolitischen Gesetzen der Steuer- und Krediterleichterungen für die kleine und mittlere Industrie anzuwenden sucht, nicht mehr beizukommen ist.

Die Zeichen einer beginnenden Einsicht mehren sich, gerade auch auf dem gewerkschaftlichen Sektor und das Abblasen des im Juli angekündigten Eisenbahnerstreiks kann vielleicht als erstes Symptom der Besinnung angesehen werden. Daß es den aufbauwilligen Kräften im Lande gelingen möge, die durch den „heißen Herbst“ 1969 unterbrochene Aufwärtsentwicklung der italienischen Wirtschaft wieder aufzunehmen und damit die große Tradition eines Alcide De Gasperi und Luiigi Einaudi wieder fortzusetzen, muß der aufrichtige Wunsch jedes wahren Freundes Italiens, aber auch jedes echten Europäers sein; nicht zuletzt auch im wohlverstandenen eigenen Interesse.

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