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Bessere Startchancen fixr schwierige Kinder

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Auch positive Vorurteile halten sich hartnäckig. Das wäre an sich nichts Schlechtes, würden sie damit nicht an der Realität vorbeigehen und Veränderungen verleugnen. So ergeht es auch den neun österreichischen SOS-Kinderdörfern, in denen heute rund 800 Kinder und Jugendliche von 130 Kinderdorf-Müttern betreut werden.

Die ursprüngliche Zielgruppe der Hermann-Gmeiner-Idee, die Waisenkinder, machen in Österreich heute nur noch 3,4 Prozent aller Kinderdorf kinder aus. Weitere 18,6 Prozent sind Halbwaisen, der weitaus größte Teil, nämlich beinahe vier Fünftel, sind sogenannte Sozial-Waisen.

Als häufigster Aufnahmegrund gilt Erziehungsunfähigkeit der Eltern, mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen kommen aufgrund gerichtlicher Entscheidung ins Kinderdorf. In jedem Fall, auch wenn die Eltern oder der verbleibende Elternteil die Aufnahme ins Kinderdorf freiwillig zulassen, ist eine Fürsorgerin im Spiel.

Die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung vom Frühsommer 1983 erhärten das Bild, daß die SOS-Kinderdörfer immer mehr zu einer letzten Chance für sozial geschädigte Kinder geworden sind.

Mehr als ein Drittel der Kinder hat zumindest einen vorbestraften Elternteil. Nur ein Viertel der Kinder kommt aus sogenannten intakten Ehen; fast ein Fünftel wurde innerhalb des ersten Lebensmonats, insgesamt 40 Prozent innerhalb des ersten Lebensjahres und 60 Prozent innerhalb der ersten drei Lebensjahre von ihrer Mutter getrennt. Mehr als ein Drittel der Kinder war zumindest einmal in einem Heim untergebracht, ebenso viele zumindest einmal auf einem Pflegeplatz.

Auch das wirtschaftliche und soziale Milieu der Eltern entspricht diesen Ergebnissen: zwei Drittel der Kinder haben Eltern mit eher unqualifizierten Berufen.

Die schlechten Startchancen dieser Kinder werden auch in deren Ausbildungsniveau deutlich. Nur knapp sieben Prozent besuchen eine weiterführende Schule nach der Pflichtschule, 16 Prozent eine Berufsschule, mehr als ein Viertel aller Kinder mußte ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt werden. Mit dem ersten Klassenzug der Hauptschule haben 27 Prozent abgeschlossen, zehn Prozente haben Volksschulbzw. Sonderschulabschluß, mehr als die Hälfte schließen mit dem zweiten Klassenzug der Hauptschule ab.

Daß die Kinderdorf-Atmosphäre den Kindern trotz aller Schwierigkeiten die ihnen noch möglichen und realisierbaren Startchancen geben kann, beweist eine Untersuchung über das spätere Leben der ehemaligen Kinderdorfkinder: von jenen, die eine Berufsausbildung begonnen haben - und das sind immerhin 89 Prozent—konnten über vier Fünftel die Ausbildung erfolgreich abschließen.

Nicht nur in ihrer Arbeitsweise und Berufswahl, auch in ihrem Privatleben entsprechen sie durchaus dem Durchschnitt der Österreicher. Drei Viertel aller ehemaligen Kinderdorfkinder sind verheiratet, mehr als zwei Drittel haben bereits eigene Kinder, und nur wenige dieser Kinder erleiden dasselbe Schicksal wie ihre Eltern; den meisten ehemaligen Kinderdorfkindern gelang somit der Einstieg in ein „normales" Leben. Auch in ihrer subjektiven Selbsteinschätzung ergibt sich ein österreichisches Durchschnittsbild.

Der Grund, warum die SOS-Kinderdörfer ihr gewandeltes Image nur sehr vorsichtig an die Öffentlichkeit herantragen, liegt gerade in dieser Öffentlichkeit. Vier Fünftel der österreichischen Spender für die SOS-Kinderdörfer sind sogenannte „kleine" Leute, die wohl Mitleid mit Waisenkindern, nicht aber mit gescheiterten Eltern und deren Kindern empfinden. Für soziale Außenseiter, Gescheiterte und solche, die „auf Kosten unserer Steuern oder Spenden" leben, bringt die weitaus größte Zahl der Österreicher oft nur Verachtung und Ablehnung auf.

Die Vorurteile gegen jene, die nicht der Norm entsprechen, „nötigt" die Kinderdorf-Liebhaber, an der Vorstellung der SOS-Waisenkinder festzuhalten.

Auch die Vorstellung von der Kinderdorfmutter, die aus reiner Nächstenliebe und Selbstaufgabe elternlosen Kindern ihr Leben opfert, ist längst nicht mehr haltbar. Immerhin bekommen sie - vom Haushaltsgeld für sich und die Kinder abgesehen — ein fixes Gehalt, sind pensionsberechtigt und können auch nach ihrer Pensionierung im Kinderdorf bleiben. In modernen Begriffen gesprochen sind sie Sozialarbeiterinnen, die Beruf (oder Berufung) zu ihrem Lebensinhalt machen. Daß die Kinderdorf-Mutter mit Bezahlung und Pensionsberechtigung der Forderung eines Teiles der Frauenbewegung entspricht, soll als pikantes Detail nicht unerwähnt bleiben.

Die Kritik, daß die Kinderdörfer nur mit Müttern geführt werden, ist zwar berechtigt, aber unrealistisch, wie die Pro-Juventu-te-Einrichtungen beweisen: da sich nur sehr wenige Ehepaare für diese Aufgabe entscheiden, gibt es nur neun Pro-Juventute-Wohngemeinschaften, die grundsätzlich der Idee der Kinderdörfer entsprechen, aber von Eltern geführt werden — im Vergleich zu 130 SOS-Wohnungen. Diese Ehepaare haben ihre Aufgabe jedoch bisher nur höchstens acht Jahre bewältigen können; dann stiegen sie aus und überließen die ihnen anvertraute Kinderschar neuen Eltern.

Sechs bis acht zum Teil schwer sozial geschädigte Kinder zu betreuen und gleichzeitig eine Partnerschaft aufzubauen und zu leben, dürfte das Maß der menschlichen Kapazität im allgemeinen doch überschreiten.

Da einerseits auch in der „normalen" österreichischen Gesellschaft die Zahl der alleinstehenden Mütter steigt und andererseits das Leben der ehemaligen Kinderdorfkinder durchaus „unauffällig" ist, dürfte das ideologische Manko der Vaterlosigkeit in den Kinderdörfern für diese Kinder eher belanglos sein.

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