6794614-1971_04_14.jpg
Digital In Arbeit

Bestrafter Mut

19451960198020002020

Das Gericht im fernen Ural, in der Stadt Swerdlowsk, verurteilte den jungen russischen Schriftsteller und Publizisten Andrej Alexejewitsch Amalrik, auf Grund des Artikels 190/1 des sowjetischen Strafgesetzbuches, das heißt wegen „vorsätzlicher Verleumdung der Sowjetunion“ zu drei Jahren Zwangsarbeit. Das Urteil sollte eine Warnung an die Adresse der sogenannten „demokratischen Bewegung“ sein, in welcher sich Amalrik wiederholt exponiert hatte. Die „Untergrund-Literatur und -kunst“ sollen noch im Keim erstickt werden. Es wird sich erst im Laufe der Jahre zeigen, ob Geheimpolizeipraxis oder Wahr- heits- und Freiheitsliebe stärker sind.

19451960198020002020

Das Gericht im fernen Ural, in der Stadt Swerdlowsk, verurteilte den jungen russischen Schriftsteller und Publizisten Andrej Alexejewitsch Amalrik, auf Grund des Artikels 190/1 des sowjetischen Strafgesetzbuches, das heißt wegen „vorsätzlicher Verleumdung der Sowjetunion“ zu drei Jahren Zwangsarbeit. Das Urteil sollte eine Warnung an die Adresse der sogenannten „demokratischen Bewegung“ sein, in welcher sich Amalrik wiederholt exponiert hatte. Die „Untergrund-Literatur und -kunst“ sollen noch im Keim erstickt werden. Es wird sich erst im Laufe der Jahre zeigen, ob Geheimpolizeipraxis oder Wahr- heits- und Freiheitsliebe stärker sind.

Werbung
Werbung
Werbung

Amalriks Vater war ein namhafter Archädloge und Historiker,’ dessen zwei Werke, die er mit einem Kollegen zusammen verfaßte, im Jahre 1959 von der Wissenschaftlichen Akademie herausgegeben wurden.

Schon als Hörer des historischen Lehrstuhls der Moskauer Universität hat Andrej Amalrik die Aufmerksamkeit der Parteipäpste unliebsam auf sich gelenkt. Er schrieb eine Dissertation unter dem Titel: „Die Normannen und das Fürstentum Kiew“, in der er die These vertrat und zu beweisen versuchte, daß im 9. Jahrhundert in Kiew ein russischer Staat existierte — mát normannischer Zivilisation. Parteihistoriker dulden aber keinen Widerspruch angesichts der offiziösen Thesen, wonach die Slawen den ersten russischen Staat begründet haben. Der Professor schlug vor, nur die unwiderlegbaren historischen Daten zu veröffentlichen und die polemische Konklusion wegzulassen. Der Wahrheitsfanatiker Amalrik war zu keiner Konzession bereit, worauf der Professor seine Arbeit ablehnte. Amalrik protestierte. Der erste Lohn seiner konsequenten Haltung war der Ausschluß von der Universität. Und damit kam er automatisch auf die Liste der suspekten Elemente. Amalrik hat schon früher versucht, seine Arbeit an den weltberühmten dänischen Slawisten, Prof. Stender Petersen, zu schicken. Da er vor der strengen Postzensur Angst hatte, versuchte er durch Kanäle der dänischen Botschaft die Dissertation weiterzuleiten. Er wurde erwischt und prompt verhaftet. In der Schrift hat man jedoch gar nichts „antisowjetisches“ gefunden, worauf er mit einer neuerlichen Verwarnung entlassen wurde. Während der relativ liberalen Chru- schtschew-Ära konnte sich Amalrik in seiner „breiten grauen Gürtelzone“ — wie er seine eigene Betätigung bezeichnete — ungehindert bewegen. Die Nachfolger des jovialen Nikita zogen jedoch die Gürtel enger, womit Amalrik wieder ins Schußfeld geriet. Im Mai 1965 wurde er wegen Produktion und Verbreitung „pornographischer Werke“ wieder verhaftet. Er hat nämlich einige Theaterstücke verfaßt, die nie aufgeführt worden sind. Erst jetzt wurden davon sechs in Holland publiziert. Drei von diesen Stücken wurden von sit tenstrengen Moralpolizisten als. port nographisch eingestuft: „Ost-West“ — kurioserweise eine Schilderung des chinesisch-russischen Zwistes; „Ist Onkel Jack ein Konformist?“ und „Meine Tante lebt in Woloko- lajnsk“. Die Kulturfunktionäre behaupteten, mit einem Gedankensalto, daß die Stücke pornographisch, ergo auch antisowjetisch seien.

Amalrik verteidigte sich damit, daß seine Werke überhaupt nicht politisch seien und gar nichts gegen die politische und Gesellschaftsordnung der UdSSR enthalten. Die Anklage wurde fallengelassen, um einer neuen Beschuldigung Platz zu machen. Diese wurde folgendermaßen formuliert: „Er meidet eine sozial-nützliche Arbeit“ und „er führt ein antisoziales, parasitisches Leben.“ Abgesehen davon, daß er zeitweise verschiedene Beschäftigungen hatte, mußte er zwei Invaliden erhalten: Seinen Vater und eine Tante. Der Prozeß dauerte nur einen Tag und das Urteil lautete: Zweieinhalb Jahre Verbannung nach Sibirien mit obligatorischer physischer Arbeit. Der ärztliche Befund, demnach Amalrik einen schweren Herzfehler gehabt hatte, wurde verworfen und Amalrik wurde auf einen Kolchos in der Umgebung von Tomsk geschickt. Nach Verbüßung der Hälfte der Strafe wurde er entlassen und durfte nach Moskau zurückkehren.

Amalriks Tagebuch wurde im vorigen Jahr in New York unter dem Titel: „Unfreiwillige Reise nach Sibirien" veröffentlicht… Mit seinem analytischen Essay: „Wird die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?" hat Amalrik die Krone auf sein Sündenregister gesetzt. Vorerst kursierte dieses Werk in „Samizdat-Form“ in der UdSSR, im Westen wurde es im Herbst 1969 veröffentlicht. Die verschiedensten Beschuldigungen wurden gegen Amalrik sowohl in seiner Heimat als auch im Westen verbreitet: Er leide an Russophobie… er sei ein KGB-Agent… sein Werk habe der demokratischen Opposition in der Sowjetunion viel geschadet… usw. Im zweiten Teil seines Pamphlets beschäftigte sich Amalrik mit den Ursachen und der Natur eines eventuellen chinesisch-russischen Krieges…

Im Herbst 1969 richtete Amalrik einen kritischen, scharfen Brief an den nach England emigrierten Lite-

raten, Anatoli Kuznezow, weil dieser mit dem Zensor einen Kompromiß schloß, um die Publizierung seines Werkes zu ermöglichen. Aber was noch schlimmer war: Amalrik bezichtigte seinen Kollegen, mit der Geheimpolizei zusammengearbeitet zu haben, um eine Ausreisegenehmigung erhalten zu können.

Während Pjotr Jakir, eine führende Persönlichkeit der sowjetischen „demokratischen Bewegung“ an Amalrik schrieb, daß er „die Psychologie und die Ideologie unserer Gesellschaft erfolgreich analysierte“, wurden Amalriks Ansichten in Moskau mit gemischten Gefühlen von der kritischen Intelligenz akzeptiert. Für Funktionäre und Partei- literaten war er einfach ein „antisowjetischer Verleumder“, also reif für einen Prozeß. Schon im vergangenen Sommer war in sowjetischen Zeitungen zu lesen, daß die Sicherheitsorgane sich für Amalrik und seine. Frau Gjusel interessieren. Sie wurden bezichtigt, Anbeter der westlichen „way of life“ und „Kollabora teure der Familie Shub" gewesen zu sein. Anatol Shub war Moskau-Korrespondent der Washington Post und wurde im Sommer 1969 wegen Kontakte zu sowjetischen Dissidenten ausgewiesen … Viktor Koroljow verurteilte Amalrik bereits vor dem Prozeß in einem Novosti-Artikel, in dem er ihn einen „kompletten Betrüger und Lügner“ nannte.

Um zu verhindern, daß Ausländskorrespondenten und Beobachter dem Amalrik-Prozeß beiwohnen können, wurde Swerdlowsk, das für Ausländer eine „verbotene Stadt“ ist, als Verhandlungsort gewählt. Amalrik sollte vollkommen isoliert werden. Dies gelang nicht, und am Tag nach seiner Verhaftung schrieben sieben prominente „Dissidenten“, mit Pjotr Jakir an der Spitze, Protestschreiben an die sowjetische Regierung und an die Vereinten Nationen. Sie wiesen darauf hin, daß diesmal das konstitutionelle Recht der freien Meinungsäußerung genauso verletzt wurde wie früher in den Fällen Andrej Sinjawskij, Juli Daniel,

Alexander Ginzburg und Jurij Galanskow.

Als Mitangeklagter teilte Lew Grigorjewitsch Uboschko die Anklagebank mit Amalrik. Uboschko ist Physiker von Beruf, er promovierte jedoch vor kurzem an der Juridischen Fakultät der Universität zu Swerdlowsk. Uboschko wurde ebenfalls zu drei Jahren verurteilt, jedoch ohne Verschärfung. Als er im Jänner 1970 verhaftet wurde, fanden die Geheimpolizisten ein Exemplar von Amalriks „Offenem Brief an Kuznezow“ in seiner Wohnung. Das Gericht — oder die Partei im Hintergrund? — wollte offensichtlich ein abschreckendes Beispiel statuieren. Das Urteil hätte auch auf 100 Rubel lauten können, man wählte jedoch das erlaubte Höchstmaß. Der Paragraph 190/1 des Strafgesetzbuches scheint ein Gurr- miartikel für die rebellierende Intelligentsia zu sein: Kürzlich wurde der Wissenschaftler R. Pimenow, früher Pavel Litwinow, Larisa Bogaraz-Daniel und Konstantin Babitskij mit nach Sibirien verbannt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung