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Wer sich heute über Ferdinand von Saar informieren möchte, wird es schwer haben. Längst vergriffen und auch in guten Antiquariaten nur selten aufzustöbern ist die zwölfbändige, von Jakob Minor knapp nach der Jahrhundertwende besorgte Gesamtausgabe. Vergriffen auch die Ende der fünfziger Jahre im Amandus-Verlag erschienene Sammlung des erzählerischen Werkes, die in drei Bänden alle 32 Novellen vereinigt.

Wer Glück hat, kann einzelnen Bänden — in arg zerlesenem Zustand, versteht sich — dann und wann begegnen. Nicht viel besser ist es um das Sortiment bestellt.

Mit einem Wort: Das Lebenswerk Ferdinand von Saars ist zur Schullektüre, bestenfalls zum

Thema von Seminararbeiten degradiert worden. Lebendig scheint es nur den Besitzern früherer Ausgaben geblieben, die ihren Schatz ängstlich hüten, sonst würde er wohl häufiger in Antiquariatskatalogen angeboten werden.

Damit stimmt recht gut überein, daß Werner Kohlschmidt in seiner fast tausend Seiten starken „Geschichte der deutschen Literatur vom Jungen Deutschland bis zum Naturalismus“ Ferdinand von Saar ebensoviel — oder besser ebensowenig — Platz ein- räutnt wie der berüchtigten Gräfin Hahn-Hahn, nämlich knapp eine Seite. Was er hier über Saar vermerkt, macht, selbst unter Berücksichtigung der unter jüngeren Germanisten endemischen Unbelesenheit in Primärliteratur, einigermaßen staunen.

Er siedelt ihn „nicht überaus weit entfernt von der Ebner- Eschenbach“ an, findet ihn .jedoch nicht von gleicher Bedeutung“. Und das ist nicht nur im Hinblick auf die Dramen beider Dichter gesagt, nicht zur Charakterisierung von Saars Lyrik, die wohl — bis auf die zwei, drei von Rudolf Borchardt in seinem „Ewigen Vorrat deutscher Poesie“ aufgenommenen Gedichte — zu Recht vergessen worden ist. Nein, der im Staub von Sekundärliteratur wühlende Literarhistoriker hat seinen Stab auch über die Novellen gebrochen. Gewiß, Ferdinand von Saar ist „nicht überaus weit“ von der Ebner- Eschenbach entfernt. Im Gegenteil: er war sogar mit ihr befreundet und hat ihr, die ihn Zeit ihres Lebens bewunderte, manch wertvolle Anregung, manch technischen Fingerzeig gegeben.

Denn er, der Autodidakt, erdachte, komponierte, schrieb seine Novellen mit unerhört sensi-

blem Kunstverstand und mit derart rigoroser Selbstkritik, daß er von manchen vierzig Fassungen verfertigte. Man begegnet einem solchen Verantwortungsgefühl nur selten unter Schriftstellern. Bei Flaubert allenfalls, bei Balzac immerhin und gewiß bei Robert Musil. .i

Bewundernswert an Leben und Werk Ferdinand von Saars ist aber gerade die unerhörte Konsequenz, mit der er sich als Schriftsteller, als Dichter zu verwirklichen, zu vervollkommnen verstand, mit der er die selbstgestellten und die ihm vom Schicksal auferlegten Probleme gemeistert und zu einem annehmbaren Ende geführt hat. Das ist nun keines-

wegs im Sinn einer Festrede gemeint, denn in das Werk des Dichters sind unzählige autobiographische Erfahrungen und Erlebnisse eingegangen; unzählige Beobachtungen aus seiner näheren Umgebung haben seinen Novellen den Reiz und die Frische erlebten Lebens gegeben.

Dieses dokumentarische

Schreiben mag bei uns Nachgeborenen nicht die gleichen Gefühlswerte und Reaktionen auslösen wie bei seinen Zeitgenossen; die Art und Weise immerhin, mit der er Erfahrungswirklichkeiten zu poetischen Wahrheiten sublimiert, hat seinen Novellen und Erzählungen Bestand verliehen, wie nur je Zeugnissen einer Zeit.

Zeugnissen freilich, die sein kritischer Verstand von allem Zufälligen, von Schlacken der Selbstgerechtigkeit und des Selbstmitleids gereinigt hat, die so manche Autobiographie veröden. Daß er darüber hinaus auch so etwas wie ein Chronist seiner Epoche geworden ist, hat er seinem Beruf zu verdanken, den ihm das Schicksal der Armut und das Machtwort seines Onkels aufgezwungen haben.

Als Offizier der k. u. k. Armee lernte er nicht nur die Länder und Landschaften dieses unerhört kontrastreichen Staatengebildes kennen, das die österreichischungarische Monarchie gewesen ist, sondern auch das Verhalten, das Denken und das Fühlen von Menschen verschiedenster Abstammung und unterschiedlichster sozialer Herkunft. Was einige Agitatoren als Völkerkerker einst in Verruf gebracht hatten, haben nicht wenige Schriftsteller, Dichter, Denker später als eine der umfassendsten, Gemüt, Haltung, Ethos und Moral gleichermaßen umgreifenden Lebensschulen angesehen und beschrieben. In ihr sind auch Ferdinand von Saars Novellen wie in der Reinkultur eines Labors angesiedelt.

Jede einzelne nimmt sich wie eine Welt im kleinen aus, wie eine Art Modell, in depi die Katastrophen der großen vorgebildet, vorgeprobt werden. Sein Instinkt versteht es, hinter den scheinbar glatten Fassaden bürgerlicher Ordnung Symptome des Verfalles sichtbar zu machen. Mit unerhörtem Spürsinn, doch lange vor Freud und seiner Schule, hat er die Tragik von Menschen gestaltet, deren Lebenstrieb, deren Lebensgier sich zum Tode wendet. Manchen gilt er deswegen als geistiger Verwandter von Arthur Schnitzler.

Was Ferdinand von Saar freilich von derlei Versuchen, die menschliche Natur zum Objekt des Erzählens zu machen, scheidet, ist sein unerhört gelassener, nobler Erzählstil, der entfernt an Stifter erinnert, in seiner Weitläufigkeit jedoch mehr von dem „westlichsten“ aller russischen Dichter dieser Zeit inspiriert scheint, nämlich von Iwan Turgenjew. In diese Richtung zeigt auch eine gewisse Melancholie, die sie beide als Dichter einer verfallenden Epoche ausweist. Saars Melancholie trägt aber insofern weiter, als sie um die verhängnisvolle Neigung des Menschen weiß, seine Fähigkeiten, seine Fertigkeiten von seinen Lebensbedingungen loszulösen und so zu verabsolutieren.

Saars erstaunliches und bis heute kaum wirklich gewürdigtes Formtalent hat derlei in die Zukunft weisende Gedankengänge in Novellen von 20 oder 30 Seiten Umfang und vor allem in einer Technik festgehalten, die den Kern des Problems Schicht um Schicht freilegt. Damit hat er aber Verfahren vorweggenommen, die ein halbes Jahrhundert später von James Joyce und Jules Romain in die Literatur eingebracht worden sind. Allen, die da an Österreichs Hochschulen Einschlägiges lehren, sei es zu Saars 150. Geburtstag (am 30. September dieses Jahres) gesagt: es gilt einen bedeutenden Schriftsteller, einen österreichischen Dichter zu entdecken.

Der Autor ist Leiter der Hörfunk-Hauptabteilung für Schulfunk und Wissenschaft

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