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Besuch bei den Ärmsten der Armen

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Das Elend Lateinamerikas berührt jeden. Das zeigen auch die Tagebuctinotizen eines Salzburger Theologen, der im Herbst 1985 Peru besucht hat. Hier ein Auszug daraus.

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Das Elend Lateinamerikas berührt jeden. Das zeigen auch die Tagebuctinotizen eines Salzburger Theologen, der im Herbst 1985 Peru besucht hat. Hier ein Auszug daraus.

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16. Oktober 1985:

Es ist unser letzter Tag in Peru. Ich habe mich von der Gruppe abgesetzt und sitze jetzt nachmittags um drei in Lima am Pazifik. Mühsam versuche ich, die Eindrücke der letzten Wochen zu ordnen - in einem Land, wo die drei Buben hungernd am Abend vor das bescheidene Lokal kommen, wo wir essen, und — mit großen Augen - darum bitten, die Kno-

chen zu bekommen, die gleich weggeworfen werden.

Wo ein Kollege einem Jungen, der Lotterielose verkauft, spät am Abend die Hälfte seiner Suppe anbietet und dieser dankbar lächelt: es ist das erste, was er heute ißt.

Die Eindrücke ordnen in einem Land mit einer reichen City, mit einer geplättelten Fußgängerzone, dem Sheraton-Hotel, Nachtlokalen, mit der Skyline am Pazifik.

Die fünfundvierzigjährige Isabell, die starb, weil sie für eine einfache Herzoperation zu arm war, und deren Kinder verlassen geweint haben. Washington, ihr siebenjähriger jüngster Sohn, mit dem ich im Arm hinter dem Sarg seiner Mutter hergegangen bin, mit Tränen in den Augen und wütend zugleich.

Die Kinder ab vier Jahren, die daheim kein Zuhause haben, es nicht mehr aushalten und fliehen. Sie übernachten unter Marktständen auf der Straße, stehlen sich einiges zusammen oder gehen als Schuhputzer, Bonbonverkäufer — oder hungern. Die zwölfjährigen Mädchen, die mit dreizehn Jahren schon alleinstehende Mütter sind.

Die Kinder, die Jesus zu sich kommen läßt, die Kinder vom Slumviertel „Äugustino" in Lima.

Die Gruppenleiterin der peruanischen katholischen Arbeiterjugend, die als Fünfzehnjährige neben der Schule her bereits achtzehn KiriUer auffängt, mit ihnen soziale Aktionen macht, spielt und sie von der Straße wegholt, ihnen Geborgenheit in der Gruppe vermitteln kann. Mit welchem Selbstbewußtsein sie unsere Fragen beantwortet!

Das Leben in Lima hat sie geprägt und gibt ihr Aufgaben. Später möchte sie Psychologie studieren, aber zuvor muß sie in der Fa-

brik - vielleicht — das Geld dafür verdienen.

Ich ordne meine Gedanken und sitze am Pazifik, auf dessen anderer Seite die Verelendung Asiens beginnt.

Ich sehe über die Strandanlagen hinaus, wo der Horizont verschwimmt; ich schaue, schaue hinaus, der Dunst über dem Humboldt-Strom, dem kalten, der Nebel erzeugt, verschmilzt mit meinem Gebet: Wo bist du, Jesus Christus, Heiland der Welt?

Warum sind sie so ängstlich darüber, nachzudenken, wie die Armut zustande kommt, und warum ist es so, daß die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden?

Warum die Frau in Cuzco ihr Kind in den Sarg legt, wo doch eine einzige Spritze geholfen hätte?

Warum es so ist, daß mir auf dieser Reise fünf Mütter Kinder nach Europa mitgeben wollen?

Warum es so ist, daß Väter und Mütter Kinder sterben lassen, um die noch Uberlebenden durchzubringen?

Warum dreihundert Mädchen und verheiratete Frauen nur noch im Bordell in Callao das alltägliche Geld bekommen zu können glauben und eine davon beim Pa-dre um Verständnis bittet angesichts der sechs hungrigen Kinder daheim?

Warum die Firmlinge nur ein bis zwei Jahre von Uberfällen und Drogenhandel ablassen und dann trotz bester Vorsätze dem Hunger nicht mehr widerstehen können und rückfällig werden?

Warum es eine wachsende Kinderprostitution gibt?

Warum diese Gesellschaft so unchristlich nach Hackordnung strukturiert ist, weiß, dunkelweiß, bräunlich, braun, braunschwarz, und warum die Augen der schwarz-braunen Vorsängerin im Jugendchor der Pfarrgemeinde„esus Obrero" im Stadtteil Surquillo in Lima diese Mischung aus Feuer und Traurigkeit haben?

Warum es für die Kirche gefährlich sein soll, über die schamlosen sozialen Strukturen von Gewalt und Gegengewalt nachzudenken? Warum eine Analyse der Armut in manchen kirchlichen Kreisen als marxistisch eingeschätzt wird, wo es doch Marx gar nicht hätte in dieser Ausprägung geben können und in Südamerika auch nicht geben würde, wenn die Kirche im vergangenen und in diesem Jahrhundert etwas getaugt hätte für die verelendeten Millionen. Und man auch ohne Marx auf die brutale Situation kommen kann - und wie man, bei Papst Paul VI., „Populorum pro-gressio", nachzulesen, auch ohne marxistisches Instrumentarium die soziale Ungerechtigkeit und das Elend orten kann.

Warum westeuropäische Journalisten dem Weihbischof Schmitz von Lima Vorwürfe gemacht haben, daß er den Papst in die Elendsviertel von Lima zu einer großen Messe mit den Ärmsten bittet. Der Papst - er sollte das Elend wohl nicht sehen, und westeuropäische Brillen sollten wohl bestätigt werden, daß man ohnehin nichts ändern muß, den Papst darf man ja auch nicht her-

ausfordern, zugunsten der Armen zu sprechen, was er dann in eindeutiger Weise als „Option für die Armen" getan hat.

Es wäre diesen Journalisten wohl lieber gewesen, wenn er im vornehmen Viertel in Lima, Mira-flores, oder in anderen Gebieten geblieben wäre und diejenigen, die sowieso schon satt sind, bestärkt. Eindeutig hat er Formen der Gewalt auf allen Seiten kritisiert. Die Armen haben ihm zugejubelt, als er, vom Redekonzept

abweichend, sagte: „Der Hunger nach Brot muß verschwinden, der Hunger nach Gott muß bleiben." Ich habe noch nie so viele begeisterte Zustimmungen zum Papst gehört wie in diesen fünf Wochen. Es ist in Peru ruhig geworden um die Befreiungstheologie, weil der Papst dort gestanden ist und die Reichen zur Bekehrung aufgefordert hat - mit eindeutigen Worten.

Warum mischt sich die europäische Kirche nicht sinnvoller ein, wenn in den Gefängnissen des Landes gefoltert wird, wenn Campesinos, die Ärmsten der Armen, von bestochenen Richtern unmöglich behandelt werden? Wo war sie, als Priester von der Geheimpolizei verhaftet und als Kommunisten beschimpft wurden, nur weil sie für die Ärmsten der Armen Saatkartoffeln besorgten, damit ihnen nicht weiterhin von hundert Kindern bis zum ersten Lebensjahr vierzig wegsterben wie die Fliegen? Warum?

Wie werde ich mit dieser Hypothek aus den Anden und der Sechsmillionenstadt am Pazifik in meinem Alltag weiter leben können?

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Ka-techetik und Religionspädagogik der Universität Salzburg.

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