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Besuch bei Strawinsky

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swürdigen russischen Weltbürger — und stets mit Vergnügen — begegnet. Wie viele Russen seines Ranges ist er auch ein glänzender Erzähler, der es nicht nötig hat, sich auf seinen berühmten Cousin Wladimir zu berufen, der, nebenbei, nicht nur „Lolita“ geschrieben hat...

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swürdigen russischen Weltbürger — und stets mit Vergnügen — begegnet. Wie viele Russen seines Ranges ist er auch ein glänzender Erzähler, der es nicht nötig hat, sich auf seinen berühmten Cousin Wladimir zu berufen, der, nebenbei, nicht nur „Lolita“ geschrieben hat...

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„Lieber Nika Dimitriewitsch.

Ja, natürlich erwarten wir Dich zu Weihnachten. Du wirst bei uns hier wohnen. Du schläfst auf dem Sofa, auf dem Nadja Boulanger, Olsen, Auden und andere geschlafen haben. Huxley war dafür zu lang. Ich hoffe, es wird für Dich lang genug sein. (Wie groß bist Du?).

Du und Balanchine werdet wahrscheinlich den Superchief nehmen, der um 8.30 morgens in Pasadena ankommt. Dort holen wir euch ab. (Pasadena ist die letzte Station vor Los Angeles und liegt zu uns näher.)

Bitte, enttäusche uns diesmal nicht — komm! Vera läßt Dich grüßen.

Dein Igor Str.“

Der Brief war in Russisch verfaßt und auf eine Seite eines Luftpostpa-pierbogens in Strawinskys zackiger Handschrift mit schwarzer Tinte geschrieben. Der Satz „Wie groß bist Du?“ war mit Rotstift an den linken Rand geschrieben, ein Sternchen verband ihn mit dem vorausgegangenen Satz. Der Satz über Pasadena war mit Blaustift von rechts oben nach links unten geschrieben, ihn verband ein blaues Sternchen mit dem vorangegangenen Satz. Das Wort prijezzhaite (komm) war dick rot unterstrichen. Das ganze kleine Blättohen Papier gab den Eindruck ausgeklügelter Ordnung, in seiner Verschiedenfarbigkeit sah es wie eine lustige Zeichnung aus.

„Lieber Igor Feodorowitsch.

Bitte verzeih, daß ich so spät antworte, aber ich wollte ganz einfach sicher sein, und erst gestern habe ich mich deflnitivement entschlossen, zu fahren. Während Balanchine sich im Zug ,ausruhen' möchte, würde ich gerne fliegen. So schlössen wir einen Kompromiß. Wir fahren im Zug hin und fliegen zurück. Im .Chief' konnten wir allerdings keinen Platz mehr bekommen. Jemand besorgte uns ein „recomette' in einem durchgehenden Waggon. Ich glaube, der Zug fährt hier um vier Uhr nachmittags von Central Station ab, aber ich weiß nicht, wann er in Los Angeles ankommt. Soweit ich verstanden habe, kommt er nicht durch Pasadena. Wir schicken Dir aus Chicago ein Telegramm.

Auden, der heute zurückgekehrt ist, erzählte mir, daß Du Klavierauszüge von Händel-Opern brauchst. Hast du Caesar1 und .Rodelinde'? Wenn nicht, bringe ich sie mit. Wie ist das Libretto? Meine besten Wünsche für Vera Arturowna und Dich Dein N. N.“

„Lieber Nika Nabokov.

Wir sind froh, daß Du kommst. Verpasse den Zug nicht. Wenn Du vom Grand Central abfährst, ist es möglicherweise der Commodore Vanderbilt, der einen durchgehenden Waggon hierher hat. Der wird in Chicago an den Grand Canyon Limited angehängt (der sehr langsam fährt). Der Comodore Vanderbilt kommt in Chicago um 8.30 morgens Chicagoer Uhrzeit an, ich habe das gerade im Kursbuch festgestellt, und Chicago um Mitternacht. So wirst Du, wenn Du am 19. um halb fünf Uhr nachmittags (New Yorker Zeit) abfährst, in Los Angeles (L. A. Zeit) am 22. um 11 Uhr früh ankommen. Wir holen Dich vom Bahnhof ab, es sei denn, Maria Balanchine holt George in ihrem Auto ab. In dem Fall kann sie Dich bei uns absetzen, was sowieso auf ihrem Weg liegt.

Wir beiden haben uns mit Auden ausgezeichnet verstanden, und das Libretto wird sehr gut werden. Ja, natürlich, bringe alle Händel-Opern mit, die Du hast. Alles Übrige besprechen wir hier. Komm, komm bald. Grüße von uns beiden.

Dein I. S.

P. S. (auf dem rechten Rand mit Bleistift) Frage George, ob er nicht (nun mit Blau- und Rostift) zwei Flaschen Eau de Genvieve mitbringen kann, es ist besser als Wodka, loh kann es hier nicht bekommen. George wird wissen, wo er es herkriegt. Komm!“

Es war meine erste Reise nach Kalifornien. Ich hatte nie dort hinfahren wollen. Bis zur letzten Minute schwankte ich, ob ich nicht doch einer mir sehr gelegen kommenden Neuralgie naohgeben und Balanchine allein fahren lassen sollte. Die ganze Reise erschien mir albern und zu extravagant. Sich für drei Tage und Nächte der Langeweile, Unruhe und Schlaflosigkeit bei luxuriösem Essen im Pullmanwagen zu unterziehen, nur um das Vergnügen zu haben, vier oder fünf Tage in Kalifornien zu sein, erschien mir wie eine verrückte Idee, einer Laune entsprungen.

Gewiß, am Ziel der Reise gab es Strawinsky und Vera, die ich beide liebte und die ich in den Jahren seiner amerikanischen Zurückgezogenheit immer besser kennengelernt hatte. Auden hatte mit erzählt, wie warmherzig sie ihre Freunde aufnahmen, wie einfach und lustig sie in ihrem winzigen Haus sein konnten. Und dann erinnerte ich mich auch der ernsten Warnung Strawinskys: „Enttäusche uns diesmal nicht. Komm!“ Strawinsky in seinem Haus zu sehen, ihn bei der Arbeit in seinem Arbeitszimmer zu beobaoh-ten und, vor allem, seine neuesten Partituren zu durchforschen, war schließlich verlockend genug, um die offensichtliche Absurdität einer so ermüdenden Reise vergessen zu lassen.

Meine Sorge, ob ich Vera umd Igor nicht lästig fallen würde, wenn ich das versprochene Sofa ausgerechnet über Weihnachten belegte, zu einer Zeit, da sicher viele Gäste erwartet würden, zerstreute Balanchine:

„Oh, nein“, sagte er, „sie haben gern Gäste. Er besonders. Mache dir keine Sorgen, er wird dich keine Minute allein lassen, er wird Tag und Nacht mit dir reden und dir Tausende von Fragen stellen. Sie werden mit dir in Hollywood herumfahren und dich in die besten Restaurants ausführen. Morgens wirst du mit ihm und seinem Papagei frühstücken und du wirst ihn bei seiner ungarischen Gymnastik erleben. Du weißt, wie durchtrainiert er ist (George schlug mit den Armen um sich) und phänomenal stark: er hat Muskeln wie ein Ringer. Er springt wie ein Ball, geht auf Händen und macht mit der Behendigkeit eines Zwanzigjährigen Klimmzüge. Außerdem wird er dir aus seinen neuen Partituren vorspielen. Es wird dir gut tun, sie sorgfältig anzusehen. Vergiß den Gedanken an ein Hotel. Du wirst ihn nur verletzen, und das wird er dir nie vergeben“

Es war etwas nach zwölf Uhr mittags am 22. Dezember, als Balanchine mit dem Auto am Abhang des North Wetherly Drive anhielt. Zu unserer Rechten war ein weißer Zaun aus Pfählen, der von einer hohen immergrünen Hecke überwuchert wurde. Etwa siebzig Meter hinter dem Gebüsch stand, wie eine Silhouette gegen die blaubraunen Hügel, ein kleines, flaches, eingeschossiges Haus mit einer engen Veranda und einer großen Terrasse auf der linken Seite.

Hinter dem Gebüsch hörten wir hastige Schritte und russische Stimmen. Eine Minute später tauchten Igor und Vera aus einer kleinen Sei-tenpforte neben der Garage auf. Igor trug einen gepunkteten dunkelroten Morgenrock, auf dem Kopf einen schmalrandigen, schwarzen zerbeulten Filzhut, Vera ein makellos weißes Neglige, das sie groß und stattlich aussehen ließ. Beide lächelten und gestikulierten. Wir umarmten uns alle.

„Nu prijechali! — Nun, endlich bist du da“, sagte Vera Arturowna.

„N-da... enfin“, echote es unter Strawinskys Hut hervor. Dieser Anblick machte mir plötzlich den außergewöhnlichen körperlichen Unterschied beider klar. Darin lag etwas Rührendes und Amüsantes. Die große olympische Gestalt Vera Artu-rownas, ihre breiten und regelmäßigen skandinavischen Gesichtszüge, ihre weit offenen und mattlächelnden Augen standen in starkem Kontrast zu Igors scharfen Zügen — seiner schnabelartigen Nase und seinen fleischigen Lippen —, und seinem kurzen, ausgemergelten Körper, der so überraschend jung, agil und elastisch war.

Ich erinnerte mich plötzlich, daß Tschelitschew Strawinsky eine „paradierende Heuschrecke“ genannt hatte und daß Cocteau zu bemerken pflegte, er sehe aus wie eine „aufgerichtete Ameise, die in einer Fabel von La Fontaine eine Rolle spielte“. Es war tatsächlich ewas Grilliges, Insektenhaftes in den Bewegungen Strawinskys. Sie waren behend, präzise und immer sehr kontrolliert, wie die Bewegungen eines vollendeten Tänzers oder Akrobaten. Dennoch wußte ich in dem Augenblick, als ich Strawinsky vor seinem Garten in Kalifornien sah, daß beide, Cocteau und Tschelitschew, Unrecht hatten. Strawinsky sah weder wie eine Ameise noch wie eine Heuschrecke aus. Er war überhaupt kein Insekt: Er glich eher einem kleinen Vogel mit großem kräftigem Schnabel und schnellen, nervösen Bewegungen.

„Gib mir das“, sagte Strawinsky und hob seine Tasche hoch. „Himmel, was ist denn da drin? Irgendeine Leiche?“

„Es sind nur Noten“, antwortete ich, „und ein paar Flaschen.“

„Ach, du hast mir meine Klavierauszüge mitgebracht... Sehr lieb von dir. Nur — ich brauche sie nicht mehr. Ich meine die Händel-Opern. Ich habe die meisten hier finden können und Hawkes hat mir versprochen, einige aus London zu besorgen.“

„Los, los“, sagte Vera Arturowna, „laßt uns hineingehen.“

Als wir durch das Tor zum Haus hinaufgingen, führte uns der Pfad durch einen Garten, der auf der einen Seite von Büsohen und der anderen von langstieligen rosa und gelben Rosen begrenzt war.

„Geht rechts, durch das Wohnzimmer“, sagte Vera Arturowna, als wir in den Flur getreten waren. Ich durchquerte den großen, sonnigen, mit Frühlingsblumen, modernen Bildern, hellen Möbeln und verschiedenen Vogelkäfigen gefüllten Raum und betrat einen kleineren, in dem an zwei Wändea Bücherborde standen. Auf der anderen Seite mit dem Rücken zum Terrassenfenster, stand „das“ Sofa.

Vera Arturowna befahl mir, meine Schuhe auszuziehen. „Das erste ist“, sagte sie, „daß wir den Gästen Maß nehmen.“

„Hier sind alle ihre Zeichen“, sagte Strawinsky und zeigte auf viele Markierungen in verschiedenen Abständen auf dem Türrahmen.

„Hier, das ist die winzige Mrs. Holm. Sie war die kleinste von allen. Und das hier ist Olsen, der größte.“

Sie waren beide erleichtert, daß meine Größe nicht die Audens überschritt.

„Oh“, sagte Vera Arturowna, „ich dachte du wärst viel größer als Auden.“

„Das macht nur sein Haar“, kommentierte Igor. „Komim her. Strecke dich auf dem Sofa aus. Siehst du“, und er wandte sioh an Balanohine, „er paßt vorzüglich darauf, von Socke bis Locke, wie eine Geige in ihrem Kasten.“

Die Balahchines verließen uns. Sie wollten uns abends zum Essen im Napoli, Strawinskys Stammlokal, abholen.

„Ich nehme an, du willst baden und dich umziehen“, sagte Vera.

„Warum, er sieht doch ganz sauber aus“, meinte Strawinsky, „et il ne sent pas trop mauvais.“

„Komm, komm, Igor, laß ihn allein.“ Sie zog ihn am Ärmel. „Wenn du fertig bist, werden wir essen.“

„Aber ich muß ihm zeigen, wo er sich waschen kann“, sagte Strawinsky und führte mich zum Badezimmer. An der Tür blieb er plötzlich stehen, wandte sich zu mir um und umarmte mich. Seine Augen waren voller Wohlwollen und Wärme. „Ich bin sehr froh, Nika, daß du endlioh gekommen bist.

„Ich muß mit dir über so vieles reden, und ich will sehen, was du jetzt komponierst.“

Er öfffnete die Tür und ließ mich in ein kleines Badzimmer mit einem schwarzen Waschbecken und einer Dusche eintreten.

„Das ist mein Duschraum. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn du nur duschen kannst. Während du da bist, wasche ich mich im anderen Badezimmer. Fühle dich wie zu Hause.“

Er zeigte mir, wie sich die Tür abschließen ließ, wo sich der Lichtschalter befand und wie die Dusche zu bedienen war — dann zog er sacht die Tür hinter sich zu.

Ich hatte mich kaum gewaschen und umgezogen, als Strawinsky zurückkehrte. „Nika, wenn du fertig bist, komm her zu einem Drink Ich habe gerade zwei Flaschen .Marc' von einem Bauern aus der Bretagne bekommen.“ v

Wir gingen durch einen kleinen Korridor zum Wohnzimmer. Bevor wir eintraten, blieb Strawinsky vor einem kleinen Wandschrank stehen und öffnete ihn.

„Siehst diu, das ist mein Weinkeller. Ich habe einige bemerkenswerte Sachen hier drin, Weine und Bran-dies. Möchtest du etwas zum Essen trinken? Was hältst du von einem „Mouton Rothschild 1937'? Bs sind nur noch ein paar Flaschen da — ein einzigartiger Wein.“

Strawinsky nahm eine Flasche .Marc' heraus und entkorkte ihn behutsam. Dann sagte er, sehr ernst dreimblickend: „Hm, das ist ein sehr zuverlässiger .Marc'“, und dann auf englisch: „Not so bad!“

Wir probierten und machten dabei schmatzende Geräusche.

„Nun schnell ein paar Proteine! Veritschka, wo sind die Proteine“, rief er aufgeregt „Gib Nika und mir ein paar Proteine!“

„Ah, da sind sie“, sagte er, als wir das Wohnzimmer betraten. Strawinsky reichte mir eine Platte mit Crackers, die dick mit Camembert bestrichen waren.

Während des Essens stellten mir beide eine Reihe von Fragen, die meist die politische Situation betrafen, loh' war eben nach zwei Jahren Dienst bei der U. S. Militärregierung aus Berlin zurückgekommen. Dies machte mich in ihren Augen zu einem Experten für die Analyse jeder beliebigen politischen Situation. Obendrein mußte ich ohne Zweifel um „Geheimnisse“ der Regierung wissen und schon darum den Lauf der Welt vorhersagen können.

Die Hauptfrage war, ob es noch einen Krieg geben werde und ob es daher klug wäre, im folgenden Sommer eine Reise nach Europa zu unternehmen. Es lag sehr viel Angst in ihrer Art, zu fragen. Mir war bewußt, wie sehr Strawinsky jede Art

von gesellschaftlicher Umwälzung haßte, sei es Krieg, Revolution, einen Streik oder auch nur eine harmlose politische Demonstration. „Wie kann man bei Unordnung arbeiten?“ pflegte er zu sagen.

Strawinskys früherer Verleger, Gabriel Paitchadze, hatte mir beschrieben, wie verwirrt und verängstigt Strawinsky gewesen war, als er vom Ausbruch des Weltkrieges in Paris überrascht wurde. Er konnte weder essen noch schlafen noch arbeiten. Er wurde nervös und reizbar und hatte nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich aus Paris, aus Europa hinauszukommen und nach Amerika zu fahren, wo das Leben noch in Ordnung zu sein schien...

Für Strawinsky bedeutete soziale Unordnung in erster Linie ein Hindernis, seine Arbeit, und das bedeutete seine Pflicht, zu tun. Er haßte Unordnung mit der ganzen Kraft seines egozentrischen Wesens. Er haßte selbst Begriffe wie „Revolution“ und „revolutionär“, wenn sie auf Musik angewandt wurden. Er konnte sehr ärgerlich werden, wenn Musikhistoriker diese Begriffe benutzten in Sätzen wie: „Die frühen revolutionären Werke Strawinskys ...“ oder „Die revolutionäre Entdeckung Beethovens ...“ oder „Die revolutionäre Erkenntnis der Tonalität als einer traumatischen Bedingung.“ „Was wollen sie denn damit sagen?“ pflegte Strawinsky zu fragen. „Revolution heißt das Überbordwerfen einer vorhandenen Ordnung durch Gewalt. Das ist notwendigerweise mit Unordnung verbunden. Musik bedeutet Ordnung, Maß, Proportionen, lauter Begriffe, die der Unordnung entgegengesetzt sind. .Revolution' darf eigentlich nichts anderes bedeuten als Umlauf, eine ordentliche, meßbare Zeitspanne“, und dann fügte er mit einer emphatischen Betonung jedes Wortes hinzu: „Das ist die einzig korrekte Weise, diesen Begriff zu nutzen.“

Ebenso fürchtete und haßte Strawinsky jeden Fall von Überwachung, Reglementierung oder gar Unterdrückung des Künstlers und seines Werkes durch Staatsgewalt. Daher auch sein starker Widerwille gegen die Sowjetunion, „wo jeder Bürokrat einem sagen kann, was man tun soll', wie anderseits seine spontane Neigung zu den Vereinigten Staaten, wo er in Ruhe arbeiten, gut verdienen und sich sicherer als in Europa fühlen konnte. „Amerika ist für mich sehr gut“, pflegte er in jenen Nachkriegsjahren zu sagen. Und Vera Arturowna ergänzte: „Er ist glücklicher geworden und ärgert sich nicht mehr so häufig.“

Nach dem Essen erschien Strawinsky auf der Terrasse und rief: „Nika, wenn du nicht zu müde bist, komm und zeige mir deine Musik.“

„Aber Igor, laß ihn doch erst ein wenig ausruhen. Willst du nicht bis zum Tee einen Nachmittagsschlaf halten?“

Ich sagte, daß ich nicht müde sei: „Aber vielleicht könnte ich dir meine Musik ein andermal zeigen. Jetzt möchte ich mir lieber deinen Orpheus' und die ,Messe' ansehen.“

<„Gut, komm mit“, sagte Strawinsky und führte mich in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des engen Korridors. Er setzte sioh an den Flügel, putzte mit einem kleinen Lappen sorgfältig seine Brille und öffnete die Partitur von „Orpheus“. Einen Augenblick später waren wir beide tief darin versunken.

Ich stand hinter ihm und sah zu, wie seine kurzen, nervösen Finger die Tastatur hinauf und hinuntereilten, die korrekten Intervalle suchten und fanden, die breitgespannten Akkorde und die weiten Melodiesprünge. Hals, Kopf — der ganze Körper akzentuierte den genialen Rhythmus der Musik. Strawinsky grunzte und summte, und gelegentlich hielt er inne, um eine Bemerkung zu machen.

„Sieh hier, diese Fuge“, er zeigte auf den Beginn des Epilogs. „Zwei Hörner führen sie aus, während eine Trompete und eine Violine unisono eine lange Melodie, eine Art von Cantus Firmus spielen. Hört sich diese Melodie für dich nicht wie eine mittelalterliche .Vielle' an? Paß auf...“ Und seine Finger eilten wieder suchend über die Tasten. Bei einer Passage, an der eine Harfe den langsamen Fortgang der Fuge unterbrach, hielt er wieder inne und sagte: „Hier, siehst du, habe ich die Fuge wie mit einer Schere abgeschnitten.“ Er schnitt mit zwei Fingern in die Luft. „Ich führe diese kurze Harfenstelle ein wie zwei Takte einer Begleitung. Dann nehmen die Hörner die Fuge wieder auf, als wäre nichts geschehen. Das wiederhole ich in regelmäßigen Abständen hier und da. Würde man dieses Harfensolo streichen und die Teile der Fuge wieder zusammenkitten, würde sich wieder ein zusammenhängendes Stück ergeben.“

„Warum hast du die Fuge auf diese Weise unterbrochen?“

Er lächelte mit hochgezogenen Brauen, als wollte er mich in eines seiner Privatgeheimnisse einweihen. „Aber hast du das nicht gehört?“ Er blätterte auf die Mitte der Partitur zurück. „Es ist eine Erinnerung an dies hier — an den Gesang von Orpheus.“ Und er fügte gedankenvoll hinzu: „Hier im Epilog klingt es wie eine Art Obsession, wie etwas, das man nicht beenden kann... Orpheus ist tot, sein Gesang ist verklungen, aber die Begleitung geht weiter.“

Hier entdeckte mir Strawinsky wieder einmal seinen ausgeprägten Sinn für die geradezu persönliche Eigenart der einzelnen Orchesterinstrumente. Dieser Sinn war es, der ihn befähigte für jede dramatische Situation die passendste und damit ausdrucksstärkste Kombination von Instrumenten zu finden, aber eben auch jedesmal eine neue und überraschend frische Klangmixtur zu entdecken. Der ausgeklügelte Einsatz der besonderen Qualitäten der einzelnen Instrumente ermöglichte es ihm, seine Kompositionen mit der größten Sparsamkeit in den Mitteln zu sohreiben. Ich glaube, in diesem Jahrhundert hat sich niemand wie er mit der Erforschung der Charakteristika der Instrumente befaßt. Wie kaum ein anderer wußte er die in einem Instrument liegenden Klangtechniken auszunutzen. Er behandelte jeden Orchestermusiker wie einen erfahrenen Solisten, einen Meister seines Handwerks. Er verlangte von ihm die Fähigkeit, mit größter Schnelligkeit die zugleich kompliziertesten rhythmischen Figuren zu spielen, mit höchster Prä-sizion alle Lagen seines Instrumentes zu beherrschen.

Das ist aber auch der Grund, weshalb die meisten Orchestermusiker, trotz der Schwierigkeiten, seine für jedes Instrument so interessant geschriebene Musik gerne spielen.

Indem er die unerforschten Register der Instrumente durch die Entdeckung neuer technischer Kniffe ausnutzte, indem er bestimmten Instrumenten die Melodieführung überließ, die sonst nur in Gruppen zu hören waren, oder indem er Klangkombinationen herstellte, die man im Orohesterkanon des neunzehnten Jahrhunderts für nicht klingend und unorthodox hielt, erreichte Strawinsky eine unglaubliche Differenzierung im Klang. Die Textur seines Orchesters nahm in den letzten vierzig Jahren eine unglaubliche Durchsichtigkeit an, die von seinen Zeitgenossen nie erreicht wurde.

Wir verbrachten den größten Teil dieses Nachmittags damit, uns die Partitur des „Orpheus“ und die zwei Teile der Lateinischen Messe anzusehen. Vom langen Stehen müde, ließ ioh mich schließlich auf eine weiche, schmale Couch fallen, die hinter dem Flügel stand. Aber da hatte Strawinsky meine Gegenwart schon völlig vergessen. Er war ganz in eine Partiturseite seiner Messe vertieft.,

Immer wieder hatten mich seine Bewegungen fasziniert. Wenn ich seiner Musik mit geschlossenen Augen folgte, sah ich ihn deutlich vor mir: Etwa wie er in lebhafter Diskussion auf Zehenspitzen über den Fußboden schlich, den Oberkörper vorgebeugt wie ein fröschefangender Storch, die Arme zur Seite abgewinkelt. In seinem elastischen Gang, dem synkopischen Nicken seines Kopfes und dem Zucken der Schultern spiegelte sich der innere Gestus seiner Kompositionen, noch verstärkt bei den plötzlichen Unterbrechungen in der Unterhaltung, wenn er wie ein Tänzer in einer Pose einfror und sein Argument durch ein breites sarkastisches Grinsen verdeutlichte.

Wie die Körperbewegungen und charakteristischen Gesten seine Musik widerspiegelten, so spiegelt sich in seinen Werken seine ganze Lebenshaltung — seine Attitüde gegenüber seiner Umgebung, gegenüber anderen Menschen, der Natur und den Dingen. Besonders spiegelt sich in seiner Musik die Liebe zur Ordnung und seine Arbeitsdisziplin, die bar jeden Selbstmitleids war. Und auch das alles fand seinen Ausdruck: sein Nachdenken über alle möglichen Arten von technischen Objekten, angefangen vom Reißnagel über Stoppuhren zu Taschenmetronomen, seine Leidenschaft für Eisenwarenhandlungen und das Vergnügen, das er darin fand, eine Nachricht mit 25 Worten in ein Telegramm zu zwängen. Aber in vielleicht noch stärkerer Weise spiegelt seine Musik scharfen Haß auf jede Art von Dummheit (dumme Menschen, dumme Kunst, dumme Briefe), den Haß auf stickige Zimmer, auf Schmutz und Unordnung, auf staubige Möbel und schlechte Gerüche. Strawinskys Witz, der sich in ätzenden Bemerkungen über Menschen und hauptsächlich über schlechte Musik artikulierte, ist von der gleichen Art, wie man ihn in seinen Partituren wiederfindet — zum Beispiel in seinem Ballett „Jeux de Cartes“, in der „Geschichte vom Soldaten“ oder im „Renard“. Es ist eine vernichtende, gnadenlose Art von Humor.

Strawinskys Arbeitszimmer war ein weiteres Beispiel für Ordnung und Präzision. Auf einem Raum, der nicht größer war als 7,50 mal 12 Meter, standen ein Flügel und ein Klavier, zwei Schreibtische (ein kleiner eleganter Sekretär und ein Zeichentisch). In zwei Vitrinen mit Glasborden lagen Bücher, Partituren und Notenpapier streng geordnet. Zwischen den beiden Instrumenten, den Schränken und den Arbeitstischen standen einige kleine Tische (einer war eine Art von „Rauchers Freuden“, auf ihm lagen Unmengen von Zigarettenschachteln, Feuerzeugen, Zigarettenspitzen, Flüssigkeiten, Feuersteinen und Pfeifenreinigern), fünf oder sechs Lehnstühle und die Couch, die Strawinsky für seinen Nachmittagsschlaf benutzte.

Außer den Instrumenten und den Möbeln gab es noch eine ungeheure Menge Krimskrams, der auf den Tischen herumstand oder an die Schränke geheftet war. Ich glaube, daß Strawinsky alles, was man zum Schreiben benötigte, in seinem Arbeitszimmer hatte, alles, was ein Eisen- oder Schreibwarenladen hergibt. Dennoch war er ständig auf der Suche nach Neuem. Die Natur war einzig durch einen Strauß weißer Rosen in einer Chinaporzellanvase vertreten, die auf seinem Schreib-tisch stand. Vera schnitt sie ihm jeden Morgen von einem besonderen Strauch.

Doch trotz der Menge der Möbel und der Fülle anderer Gegenstände hatte man den Eindruck, sich in einem geräumigen Zimmer zu befinden, weil alles so gut organisiert und funktionell war. Es war, als blickte man auf ein Schachbrett mit weißen und schwarzen Figuren, die alle in einer exakten Beziehung zueinander standen.

Zugleich erschien das Zimmer wie ein dichter Ameisenhaufen. Wenn Strawinsky sich durch die engen Korridore, die von den verschiedenen Möbelstücken gebildet wurden, wie in einem Käfig umherbewegte, drängte sich doch der Vergleich mit einer geschäftigen und fleißigen Ameise auf, die in dem geordneten Labyrinth in ihrer Zitadelle hin und her kriecht. Wie eine Ameise schleppte er gerne allerhand Gegenstände hinein. Wenn jemand ihm ein Geschenk brachte, öffnete er es nicht vor den Augen seiner Frau oder irgend jemandes anderen. Er wartete, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab und er sioh leise in sein Arbeitszimmer schleichen konnte. Dort packte er es aus, und wenn es ihm gefiel oder es ihm nützlich erschien, fand er dafür einen Platz zwischen dem anderen Krimskrams ...von gesellschaftlicher Umwälzung haßte, sei es Krieg, Revolution, einen Streik oder auch nur eine harmlose politische Demonstration. „Wie kann man bei Unordnung arbeiten?“ pflegte er zu sagen.

Strawinskys früherer Verleger, Gabriel Paitchadze, hatte mir beschrieben, wie verwirrt und verängstigt Strawinsky gewesen war, als er vom Ausbruch des Weltkrieges in Paris überrascht wurde. Er konnte weder essen noch schlafen noch arbeiten. Er wurde nervös und reizbar und hatte nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich aus Paris, aus Europa hinauszukommen und nach Amerika zu fahren, wo das Leben noch in Ordnung zu sein schien...

Für Strawinsky bedeutete soziale Unordnung in erster Linie ein Hindernis, seine Arbeit, und das bedeutete seine Pflicht, zu tun. Er haßte Unordnung mit der ganzen Kraft seines egozentrischen Wesens. Er haßte selbst Begriffe wie „Revolution“ und „revolutionär“, wenn sie auf Musik angewandt wurden. Er konnte sehr ärgerlich werden, wenn Musikhistoriker diese Begriffe benutzten in Sätzen wie: „Die frühen revolutionären Werke Strawinskys ...“ oder „Die revolutionäre Entdeckung Beethovens ...“ oder „Die revolutionäre Erkenntnis der Tonalität als einer traumatischen Bedingung.“ „Was wollen sie denn damit sagen?“ pflegte Strawinsky zu fragen. „Revolution heißt das Überbordwerfen einer vorhandenen Ordnung durch Gewalt. Das ist notwendigerweise mit Unordnung verbunden. Musik bedeutet Ordnung, Maß, Proportionen, lauter Begriffe, die der Unordnung entgegengesetzt sind. .Revolution' darf eigentlich nichts anderes bedeuten als Umlauf, eine ordentliche, meßbare Zeitspanne“, und dann fügte er mit einer emphatischen Betonung jedes Wortes hinzu: „Das ist die einzig korrekte Weise, diesen Begriff zu nutzen.“

Ebenso fürchtete und haßte Strawinsky jeden Fall von Überwachung, Reglementierung oder gar Unterdrückung des Künstlers und seines Werkes durch Staatsgewalt. Daher auch sein starker Widerwille gegen die Sowjetunion, „wo jeder Bürokrat einem sagen kann, was man tun soll', wie anderseits seine spontane Neigung zu den Vereinigten Staaten, wo er in Ruhe arbeiten, gut verdienen und sich sicherer als in Europa fühlen konnte. „Amerika ist für mich sehr gut“, pflegte er in jenen Nachkriegsjahren zu sagen. Und Vera Arturowna ergänzte: „Er ist glücklicher geworden und ärgert sich nicht mehr so häufig.“

Nach dem Essen erschien Strawinsky auf der Terrasse und rief: „Nika, wenn du nicht zu müde bist, komm und zeige mir deine Musik.“

„Aber Igor, laß ihn doch erst ein wenig ausruhen. Willst du nicht bis zum Tee einen Nachmittagsschlaf halten?“

Ich sagte, daß ich nicht müde sei: „Aber vielleicht könnte ich dir meine Musik ein andermal zeigen. Jetzt möchte ich mir lieber deinen Orpheus' und die ,Messe' ansehen.“

<„Gut, komm mit“, sagte Strawinsky und führte mich in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des engen Korridors. Er setzte sioh an den Flügel, putzte mit einem kleinen Lappen sorgfältig seine Brille und öffnete die Partitur von „Orpheus“. Einen Augenblick später waren wir beide tief darin versunken.

Ich stand hinter ihm und sah zu, wie seine kurzen, nervösen Finger die Tastatur hinauf und hinuntereilten, die korrekten Intervalle suchten und fanden, die breitgespannten Akkorde und die weiten Melodiesprünge. Hals, Kopf — der ganze Körper akzentuierte den genialen Rhythmus der Musik. Strawinsky grunzte und summte, und gelegentlich hielt er inne, um eine Bemerkung zu machen.

„Sieh hier, diese Fuge“, er zeigte auf den Beginn des Epilogs. „Zwei Hörner führen sie aus, während eine Trompete und eine Violine unisono eine lange Melodie, eine Art von Cantus Firmus spielen. Hört sich diese Melodie für dich nicht wie eine mittelalterliche .Vielle' an? Paß auf...“ Und seine Finger eilten wieder suchend über die Tasten. Bei einer Passage, an der eine Harfe den langsamen Fortgang der Fuge unterbrach, hielt er wieder inne und sagte: „Hier, siehst du, habe ich die Fuge wie mit einer Schere abgeschnitten.“ Er schnitt mit zwei Fingern in die Luft. „Ich führe diese kurze Harfenstelle ein wie zwei Takte einer Begleitung. Dann nehmen die Hörner die Fuge wieder auf, als wäre nichts geschehen. Das wiederhole ich in regelmäßigen Abständen hier und da. Würde man dieses Harfensolo streichen und die Teile der Fuge wieder zusammenkitten, würde sich wieder ein zusammenhängendes Stück ergeben.“

„Warum hast du die Fuge auf diese Weise unterbrochen?“

Er lächelte mit hochgezogenen Brauen, als wollte er mich in eines seiner Privatgeheimnisse einweihen. „Aber hast du das nicht gehört?“ Er blätterte auf die Mitte der Partitur zurück. „Es ist eine Erinnerung an dies hier — an den Gesang von Orpheus.“ Und er fügte gedankenvoll hinzu: „Hier im Epilog klingt es wie eine Art Obsession, wie etwas, das man nicht beenden kann... Orpheus ist tot, sein Gesang ist verklungen, aber die Begleitung geht weiter.“

Hier entdeckte mir Strawinsky wieder einmal seinen ausgeprägten Sinn für die geradezu persönliche Eigenart der einzelnen Orchesterinstrumente. Dieser Sinn war es, der ihn befähigte für jede dramatische Situation die passendste und damit ausdrucksstärkste Kombination von Instrumenten zu finden, aber eben auch jedesmal eine neue und überraschend frische Klangmixtur zu entdecken. Der ausgeklügelte Einsatz der besonderen Qualitäten der einzelnen Instrumente ermöglichte es ihm, seine Kompositionen mit der größten Sparsamkeit in den Mitteln zu sohreiben. Ich glaube, in diesem Jahrhundert hat sich niemand wie er mit der Erforschung der Charakteristika der Instrumente befaßt. Wie kaum ein anderer wußte er die in einem Instrument liegenden Klangtechniken auszunutzen. Er behandelte jeden Orchestermusiker wie einen erfahrenen Solisten, einen Meister seines Handwerks. Er verlangte von ihm die Fähigkeit, mit größter Schnelligkeit die zugleich kompliziertesten rhythmischen Figuren zu spielen, mit höchster Prä-sizion alle Lagen seines Instrumentes zu beherrschen.

Das ist aber auch der Grund, weshalb die meisten Orchestermusiker, trotz der Schwierigkeiten, seine für jedes Instrument so interessant geschriebene Musik gerne spielen.

Indem er die unerforschten Register der Instrumente durch die Entdeckung neuer technischer Kniffe ausnutzte, indem er bestimmten Instrumenten die Melodieführung überließ, die sonst nur in Gruppen zu hören waren, oder indem er Klangkombinationen herstellte, die man im Orohesterkanon des neunzehnten Jahrhunderts für nicht klingend und unorthodox hielt, erreichte Strawinsky eine unglaubliche Differenzierung im Klang. Die Textur seines Orchesters nahm in den letzten vierzig Jahren eine unglaubliche Durchsichtigkeit an, die von seinen Zeitgenossen nie erreicht wurde.

Wir verbrachten den größten Teil dieses Nachmittags damit, uns die Partitur des „Orpheus“ und die zwei Teile der Lateinischen Messe anzusehen. Vom langen Stehen müde, ließ ioh mich schließlich auf eine weiche, schmale Couch fallen, die hinter dem Flügel stand. Aber da hatte Strawinsky meine Gegenwart schon völlig vergessen. Er war ganz in eine Partiturseite seiner Messe vertieft.,

Immer wieder hatten mich seine Bewegungen fasziniert. Wenn ich seiner Musik mit geschlossenen Augen folgte, sah ich ihn deutlich vor mir: Etwa wie er in lebhafter Diskussion auf Zehenspitzen über den Fußboden schlich, den Oberkörper vorgebeugt wie ein fröschefangender Storch, die Arme zur Seite abgewinkelt. In seinem elastischen Gang, dem synkopischen Nicken seines Kopfes und dem Zucken der Schultern spiegelte sich der innere Gestus seiner Kompositionen, noch verstärkt bei den plötzlichen Unterbrechungen in der Unterhaltung, wenn er wie ein Tänzer in einer Pose einfror und sein Argument durch ein breites sarkastisches Grinsen verdeutlichte.

Wie die Körperbewegungen und charakteristischen Gesten seine Musik widerspiegelten, so spiegelt sich in seinen Werken seine ganze Lebenshaltung — seine Attitüde gegenüber seiner Umgebung, gegenüber anderen Menschen, der Natur und den Dingen. Besonders spiegelt sich in seiner Musik die Liebe zur Ordnung und seine Arbeitsdisziplin, die bar jeden Selbstmitleids war. Und auch das alles fand seinen Ausdruck: sein Nachdenken über alle möglichen Arten von technischen Objekten, angefangen vom Reißnagel über Stoppuhren zu Taschenmetronomen, seine Leidenschaft für Eisenwarenhandlungen und das Vergnügen, das er darin fand, eine Nachricht mit 25 Worten in ein Telegramm zu zwängen. Aber in vielleicht noch stärkerer Weise spiegelt seine Musik scharfen Haß auf jede Art von Dummheit (dumme Menschen, dumme Kunst, dumme Briefe), den Haß auf stickige Zimmer, auf Schmutz und Unordnung, auf staubige Möbel und schlechte Gerüche. Strawinskys Witz, der sich in ätzenden Bemerkungen über Menschen und hauptsächlich über schlechte Musik artikulierte, ist von der gleichen Art, wie man ihn in seinen Partituren wiederfindet — zum Beispiel in seinem Ballett „Jeux de Cartes“, in der „Geschichte vom Soldaten“ oder im „Renard“. Es ist eine vernichtende, gnadenlose Art von Humor.

Strawinskys Arbeitszimmer war ein weiteres Beispiel für Ordnung und Präzision. Auf einem Raum, der nicht größer war als 7,50 mal 12 Meter, standen ein Flügel und ein Klavier, zwei Schreibtische (ein kleiner eleganter Sekretär und ein Zeichentisch). In zwei Vitrinen mit Glasborden lagen Bücher, Partituren und Notenpapier streng geordnet. Zwischen den beiden Instrumenten, den Schränken und den Arbeitstischen standen einige kleine Tische (einer war eine Art von „Rauchers Freuden“, auf ihm lagen Unmengen von Zigarettenschachteln, Feuerzeugen, Zigarettenspitzen, Flüssigkeiten, Feuersteinen und Pfeifenreinigern), fünf oder sechs Lehnstühle und die Couch, die Strawinsky für seinen Nachmittagsschlaf benutzte.

Außer den Instrumenten und den Möbeln gab es noch eine ungeheure Menge Krimskrams, der auf den Tischen herumstand oder an die Schränke geheftet war. Ich glaube, daß Strawinsky alles, was man zum Schreiben benötigte, in seinem Arbeitszimmer hatte, alles, was ein Eisen- oder Schreibwarenladen hergibt. Dennoch war er ständig auf der Suche nach Neuem. Die Natur war einzig durch einen Strauß weißer Rosen in einer Chinaporzellanvase vertreten, die auf seinem Schreib-tisch stand. Vera schnitt sie ihm jeden Morgen von einem besonderen Strauch.

Doch trotz der Menge der Möbel und der Fülle anderer Gegenstände hatte man den Eindruck, sich in einem geräumigen Zimmer zu befinden, weil alles so gut organisiert und funktionell war. Es war, als blickte man auf ein Schachbrett mit weißen und schwarzen Figuren, die alle in einer exakten Beziehung zueinander standen.

Zugleich erschien das Zimmer wie ein dichter Ameisenhaufen. Wenn Strawinsky sich durch die engen Korridore, die von den verschiedenen Möbelstücken gebildet wurden, wie in einem Käfig umherbewegte, drängte sich doch der Vergleich mit einer geschäftigen und fleißigen Ameise auf, die in dem geordneten Labyrinth in ihrer Zitadelle hin und her kriecht. Wie eine Ameise schleppte er gerne allerhand Gegenstände hinein. Wenn jemand ihm ein Geschenk brachte, öffnete er es nicht vor den Augen seiner Frau oder irgend jemandes anderen. Er wartete, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab und er sioh leise in sein Arbeitszimmer schleichen konnte. Dort packte er es aus, und wenn es ihm gefiel oder es ihm nützlich erschien, fand er dafür einen Platz zwischen dem anderen Krimskrams ...

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