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Beten in China: Tibet ist ein Signal

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Tibet: Dalai-Lama und Heinrich Harrer, Land der Gebetsmühlen und der Geierbestattung, der Schamanen und Exorzisten, aber auch der fleißigen Produktionsbrigaden und Teppichmanufakturen. Das seit 20 Jahren abgeriegelte „Dach der Welt“ ist eine Woche lang für ein paar österreichische Journalisten aufgeklappt worden. Unter dem vielen, das es zu entdecken gab, war auch Religion. Vor allem Religion.

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Tibet: Dalai-Lama und Heinrich Harrer, Land der Gebetsmühlen und der Geierbestattung, der Schamanen und Exorzisten, aber auch der fleißigen Produktionsbrigaden und Teppichmanufakturen. Das seit 20 Jahren abgeriegelte „Dach der Welt“ ist eine Woche lang für ein paar österreichische Journalisten aufgeklappt worden. Unter dem vielen, das es zu entdecken gab, war auch Religion. Vor allem Religion.

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Der untersetzte Siebziger mit den pfiffigen Augen und der blauen Arbeitsschürze ums fröhliche Bäuchlein geschlungen könnte der Pförtner oder der Gärtner sein. Aber es ist Pfarrer Petrus Ji-zhi Wang selber, der uns die Türe öffnet, an die wir unangemeldet geklopft haben. Seit vielen Jahren steht er der Immaculata-Kirche in Peking vor: der einzigen katholischen Kirche in der Hauptstadt der Volksrepublik China, die auch in den stürmischen Tagen der Kulturrevolution nicht zusperren mußte - damals freilich aber nur von ausländischen Diplomaten besucht worden ist.

Heute kommen jeden Sonntag auch wieder an die 200 heimische Christen hierher, wie der Pfarrer erzählt. Wir haben die Konversation mühsam in Latein begonnen, entschließen uns aber rasch zur Heranziehung der offiziellen Dolmetscher, die sich dezent im Hintergrund halten - an eine Verschwörung ist wirklich nicht gedacht.

An die 10.000 Katholiken, schätzt der Pfarrer, hat Peking vor 30 Jahren gehabt, als die roten Befreier kamen -„heute sind es vielleicht noch fünf-oder sechstausend“. Besteht eine Verbindung zum Vatikan? „Nein, wir sind eine selbständigeKirche geworden“. Hat es im Auge des Priesters ein wenig gefunkelt? Es muß wohl der Widerschein des fahlen Pekinger Monsunhimmels gewesen sein.

Was darf ein Priester außer Messefeiern tun? Taufen (aber erst ab dem 18. Lebensjahr, so befiehlt das Gesetz), Tote bestatten, Beichte hören, aber alles hübsch still und privat.

Das schwärzliche Gotteshaus wirkt von außen viel altersschwächer als von innen. Der Staat hungert die Kirche nicht völlig aus. „Es ist immer auch noch die Bischofskirche“, berichtet stolz der Pfarrer. Tatsächlich hat dort erst dieser Tage Michael Fu Tienschan das Opfer gefeiert, der am 25. Juli von der Patriotischen Katholischen Vereinigung Pekings zum Bischof „gewählt“ worden war.

„Gratias agimus“, kommen wir zum Schluß des Gesprächs. „Ore-mus“, setzt Pfarrer Petrus hinzu. „Laßt uns beten!“ Wo können Chinas Massen auch öffentlich beten?

In Tibet zum Beispiel. Die Bewohner des geheimnisumwitterten größten Hochlands der Erde nördlich der Himalaja-Region strömen seit kurzem wieder zu Hunderten und Tausenden zu ihren goldglänzenden Tempeln, um ihren Kotau - dreimaliger Kniefall, neunmaliges Aufschlagen des Kopfes auf der Erde - zu vollziehen.

Tibet, 3600 Meter schon mit dem Plateaugrund oberhalb des Meeres, noch einmal von ungezählten, vielfach auch sommers schneebedeckten

Mehrtausendern überragt, Quellgrund fast aller großen Ströme Asiens, ist heiliger Boden für Buddhisten, Hindus und die Anhänger der alten Bon-Religion.

Im achten Jahrhundert wurde der Buddhismus importiert, der sich viel erfolgreicher erwies als christliche Missionare, deren erster aus Europa der österreichische Jesuit J. Grüber im 17. Jahrhundert war. Seit dem 17. Jahrhundert ist der Dalai-Lama, die Inkarnation des „Mitfühlenden Buddha“, auch der weltliche Herrscher Tibets. Als 1950 die rotchinesische Volksbefreiungsarmee einrückte, floh der damals 15jährige Dalai-Lama nach Indien, ließ sich zwei Jahre später aber zur Rückkehr bewegen, als Peking relative Autonomie und Religionsfreiheit verhieß.

Etwa das gleiche hatte sich schon 1909 mit seinem Vorgänger abgespielt. Und obwohl auch die 1911 ausgerufene Republik China Tibet zu einer ihrer Provinzen erklärte, konnte sie diesen Anspruch damals nicht durchsetzen und der Dalai-Lama' blieb de facto ihr unumschränkter Gottkönig.

In den 50er Jahren drehte das Rad der Geschichte sich anders. Die Chinesen begannen zügig mit ihren Reformen, bauten Straßen und Industrien, was bisher aus religiösen Gründen verpönt gewesen war, errichteten Schulen und Gesundheitsstationen, was die Lamapriester aus traditionellen Reservaten vertrieb. Die Spannungen entluden sich 1959 in einem blutigen Aufstand der Religionsanhänger gegen die Besatzer, .den die Chinesen niederschlugen, und mit der endgültigen Flucht des Dalai-Lama nach Indien; 60.000 bis 80.000 Tibeter folgten ihm.

Seither war Tibet von der Außenwelt nahezu vollständig isoliert. Erst seit 1975 wurden Günstlinge der Pekinger Regierung vereinzelt eingelassen: der einstige US-Verteidigungsminister Schlesinger etwa oder die belgisch-chinesische Ärztin und Schriftstellerin Han Suyin, deren Buch „Chinas Sonne über Lhasa“ (Scherz-Verlag, 1978) interessante Basisinformationen vermittelt, freilich alles durch einen naiv anmutenden Rotfilter besieht und in vielem von der sich nunmehr rasch ändernden Wirklichkeit überholt worden ist.

Davon konnten zehn österreichische Journalisten sich überzeugen, die nach drei indischen Reportern sowie den in Peking akkreditierten Auslandskorrespondenten als erste ausländische Gastdelegation auf das „Dach der Welt“ geführt wurden. Das vordergründige Abenteuer eines solchen Besuches konnten die Österreicher seit vergangenem Samstag in sechs österreichischen Tageszeitungen nachempfinden: Es muß ihnen dabei schon ähnlich schwindlig wie uns beim Stufensteigen in die dünn-luftigen Höhen des tausendjährigen „Buddhaberges“ (Potala) geworden sein.

Das Abenteuer des Geistes lag, sofern nicht überhaupt die Schilderung eines einwöchigen Erlebnisses sich jeder apodiktischen Generalisierung entzieht, in der Begegnung mit einer urtümlichen Gläubigkeit der einfachen Volksmassen.

Ein Volk, das niemals reich oder auch nur niedrigster Existenzsorge enthoben war, hat im Lauf der Geschichte Kunstschätze von unermeßlichem Reichtum zur höheren Ehre ihres Gottes und seiner Götter, Zauberer, Dämonen und Hexenmeister sich abgerackert und wohl auch sich abpressen lassen von einer Priesterschicht, die Grund und Boden an sich riß, Handel und Wandel steuerte, Lohn und Strafe zumaß und zuletzt 20 Prozent aller männlichen Einwohner Tibets umfaßte.

Dazu muß man bedenken, daß der tibetische Lamaismus dem Buddhismus des „Großen Fahrzeugs“ zuzurechnen ist, der einen monumentalen, alle menschliche Vorstellungskraft und Erreichbarkeit übersteigenden Buddha predigt und wenig mit dem bescheidenen, Buddha nur als großen weisen Lehrer, aber nicht als Gott achtenden Lehrweg des „Kleinen Fahrzeugs“ zu tun hat.

Der Buddha des Großen Fahrzeugs ist wie die hunderten und tausenden goldprunkenden, schmucküberladenen Buddhafiguren in den Klöstern von Tibet, von denen es einmal an die dreitausend gab: riesig, kalt, machtstrotzend, ein Ungetüm, das Unterwerfung verlangt. Und seine irdischen Diener haben nicht nur meditiert und heilige Schriften (Sut-ren) rezitiert, sondern drückende Opfer eingetrieben und Leibeigene zu Frondiensten für die Klöster verhalten, die 37% des Landes besaßen.

Da das System keinen Joseph II.

erstehen ließ, mußten die Kommunisten kommen, um der Leibeigenschaft ein Ende und der modernen Entwicklung einen Anfang zu setzen. Daß es bei der Umerziehung und Umstrukturierung brutal zuging, auch blutig, liegt im Wesen dieser Ideologie, die für den einzelnen wenig Schonung kennt.

Man kann die Erinnerung daran hinter den bergähnlich zerklüfteten Gesichtern der Lamas ahnen, die heute mit der stoischen Gelassenheit ihrer Natur und ihres Amts kommunistische Propagandaphrasen über ihre Lippen wie das „Om mani padme“ über die Gebetsmühlen klappern lassen: regimehörige Opportunisten ebenso unter ihnen wie kluge Diplomaten und bemühte Seelsorger, wie dies in solchen Situationen eben unvermeidlicherweise der Fall ist.

Was immer 1959 und in der Kulturrevolution geschehen sein mag: Sicher ist, daß heute die großen Tempel und Weihestätten wiederhergestellt und an drei Tagen der Woche auch jedermann zugänglich gemacht worden sind.

An die 400 Pilger werden wöchentlich im Serakloster gezählt, wo von einstmals über 5000 Lamas noch 130 ihren Dienst verrichten, und 4000 bis 5000 im heiligsten, schönsten und am stärksten berührenden Dschok-höng-Tempel im Herzen der Pilgerstadt Lhasa. In dem wie eine Handvoll Reis malerisch ins Felsmassiv verstreuten Tempelkomplex von Dschepöng (Drepung), mit über 10.000 Lamas (und 40.000 Leibeigenen!) einstmals das größte Kloster der Welt, sind heute rund 200 Lamas auch „seelsorglich“ tätig.

Das Bewegende, Erschütternde, zumindest zu stummem Respekt Nötigende daran ist, daß weder der Herrschaftsanspruch machtbesessener Mönche noch der offizielle Atheismus der neuen Herrscher dem Volk seinen Glauben zu rauben vermochten. Im Gegenteil: Das KP-Regime will sogar den Dalai-Lama dazu ermutigen, von Indien nach Lhasa zurückzukehren und sich als Herold der Reformpolitik gebrauchen zu lassen, so wie Stalin den orthodoxen Patriarchen zum großen Bundesgenossen im „Vaterländischen Krieg“ gegen Hitler proklamierte!

Die Tibeter wären als Volk ohne Religion wie ein Fisch ohne Wasser. So haben die Völkerkundler sie immer beschrieben, so haben auch die roten Machthaber es offenbar erfahren müssen. Anders die Chinesen, die nie als typisch religiöses Volk gelten konnten. Außerdem haben die christlichen Kirchen rein zahlenmäßig nicht die annähernd gleiche Bedeutung wie der Lamaismus in Tibet.

Deshalb verläuft im übrigen China die Wiederentdeckung des Religionsfreiheitsartikels in der Verfassung weniger spektakulär. Da und dort ist (wie in Schanghai)ein buddhistischer Tempel religiösen Riten und nicht nur musealer Verwendung zugänglich. Gelegentlich wird eine Moschee wiedereröffnet wie jüngst in Gu-angdschou (Kanton).

Über unser Ersuchen hat man uns in Schanghai auch zu jener Kirche geführt, die seit 1966 als Lagerhaus für Lebensmittel und Süßwaren dient, demnächst aber wieder für Gottesdienstzwecke geräumt werden soll. „Wir wissen es schon“, grinste der Verwalter listig...

Ansonsten ist die Auskunftsbereitschaft des offiziellen China in Sachen Religion nicht überwältigend. Drei Wochen lang bemühten wir uns vergeblich um Kontakte mit dem neugeschaffenen Büro für religiöse Angelegenheiten. In Schanghai war Bischof Khia-Schu leider nicht zu sprechen. (Eine Erklärung: „Er ist sehr alt.“ Eine zweite: „Er ist nicht da.“) In westlichen Pressemeldungen war er jüngst als von der Pekinger Regierung ins Auge gefaßter Mittelsmann für Verhandlungen mit dem Vatikan genannt worden.

Dem italienischen Sinologen Franco Marchi haben Vertreter der chinesischen Botschaft in Rom zu Jahresbeginn ein Interesse an diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl signalisiert. Bedingung: Abbruch der Beziehungen zu Taiwan. Dieser Weg wird sich ziehen ...

Am meisten überraschte in der westlichen Welt eine Andeutung chi-nesicher Regierungsstellen gegenüber dem französischen Botschafter in Peking, man würde sich über die Wiedererrichtung der einstigen französischen Aurora-Universität in Schanghai mit ihren „tüchtigen ehemaligen Professoren“ als französischsprachige Medizinische Fakultät freuen. Die „tüchtigen ehemaligen Professoren“ waren Jesuiten. „Vorsicht vor übertriebenem Optimismus“, wurde uns in diplomatischen Kreisen Pekings bedeutet.

Ein katholischer Priester chinesischer Abstammung, der im Frühjahr China bereisen konnte, brachte die Mitteilung nach Ron, daß von einstmals über drei Millionen Katholiken etwa eine Mülipn übriggeblieben sein dürfte und von 30 heutigen Bischöfen 16 rechtmäßig vom Papst ernannt, neun freüich noch immer an der Amtsausübung gehindert seien.

Keine strahlende Bilanz. Aber selbst das wäre in einem Land, das in der Verfassung Religion wie Atheismus gleichermaßen freistellt, nur für letzteren aber auch Propagierungsfreiheit verbürgt, nach 30 Jahren kämpferisch atheistischer Revolution vielleicht so etwas wie ein kleines Beispiel für das „weiche Rascheln des Lebens und der Hoffnung“, das selbst ein Ungläubiger wie Albert Camus „inmitten des Aufruhrs der Reiche und Nationen“ zu vernehmen wähnte.

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