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Beten vor dem Kreml

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Die Kirche erlebt eine neue Freiheit in der Sowjetunion. Nach 70 Jahren der Unter- drückung sichert das sowje- tische Parlament wieder al- len Bürgern Religions- und Gewissensfreiheit zu.

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Die Kirche erlebt eine neue Freiheit in der Sowjetunion. Nach 70 Jahren der Unter- drückung sichert das sowje- tische Parlament wieder al- len Bürgern Religions- und Gewissensfreiheit zu.

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Viele Gläubige in der UdSSR hatten auf diesen Tag nicht mehr zu hoffen gewagt. Nach mehr als 70 Jahren der Unterdrückung wurde allen sowjetischen Staatsbürgern wieder ein fundamentales Men- schenrecht zuerkannt: die Reli- gions- und Gewissensfreiheit. Am 1. Oktober 1990 stimmten im Ober- sten Sowjet nach tagelangen De- batten 341 Abgeordnete (bei zwei Enthaltungen) für das neue Gesetz über „Gewissensfreiheit und reli- giöse Organisationen".

„Wir sind noch nicht mit allem zufrieden, aber trotzdem bedeutet dieser Gesetzesbeschluß einen fun- damentalen Fortschritt für alle Gläubigen in der UdSSR", ließ sogleich der orthodoxe Patriarch von Moskau und ganz Rußland, Alexis IL, verkünden, der, selbst Abgeordneter, eine Gesetzesvorla- ge für den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen einge- bracht hatte.

Seit der Revolution, und beson- ders den stalinistischen Religions- gesetzen vom 8. April 1929, war allen Religionsgemeinschaften jeg- liche soziale und caritative Tätig- keit streng verboten. Eine öffentli- che Glaubensbezeugung war nicht selten mit Gefängnis oder Lebens- gefahr verbunden.

Eine neue Ära der Beziehungen zwischen Staat und Kirche bahnte sich nun seit der Jahrtausendfeier der Christianisierung Rußlands vor zwei Jahren an. Im Zeichen von Glasnost und Perestrojka bemüht sich die sowjetische Regierung sichtlich um ein entspanntes Ver- hältnis zur Russisch-Orthodoxen Kirche und den anderen Religions- gemeinschaften. Sichtbarstes Zei- chen der neuen Freiheit war kürz- lich die erste orthodoxe Meßfeier seit der Revolution von 1917 in der Basilius-Kathedrale auf dem Ro- ten Platz in Moskau.

Die Jahrzehnte der Unterdrük- kung haben das religiöse Leben aus dem öffentlichen Leben der Sowjet- union verbannt und auf ihre ei- gentliche Domäne, den Kult, zu- rückgedrängt. Generationen von Priestern haben - immer auch ein wenig begünstigt durch die ortho- doxe Tradition - ihre Tätigkeit auf die jeweilige Pfarrkirche be- schränkt. Ihre einzige Hingabe bestand im Dienst an „der heiligen Liturgie" und den Sakramenten. P. Alexandr Borissow beispiels- weise zeigte sich ange- nehm überrascht, aber keineswegs eupho- risch, wie das katholi- sche Blatt „La Croix" berichtete. Ihn er- reichte die überra- schende Nachricht vom sowjetischen Par- lamentsbeschluß während einer Reise durch Frankreich. Der 51jährige orthodoxe Priester entspricht nicht dem herkömmli- chen Bild eines russU sehen Popen, wie es gern westlichem Kli- schee entspringt. Er steht an der Spitze einer Bewegung von zahlreichen Gläubi- gen, die seit Jahren für eine neue Freiheit in der UdSSR kämpft.

Borissow hat - in völ- liger Übereinstim- mung mit dem neuen Moskauer Bürgermei- ster Gawriil Popow - eine eigene Komission gegründet, die die Möglichkeit des Reli- gionsunterrichts an den öffentlichen Schu- len vorsieht. „Es be- steht ein großer Wunsch vor allem sei- tens der Eltern, die für ihre Kinder eine reli- giöse Erziehung wün- schen, obwohl sie sich selber nicht dazu be- kennen" erklärt P. Alexandr. Die „Kom- mission Borissow" ar- beitet hier eng mit den Ideen eines anderen orthodoxen Priesters zusammen, des lang- jährigen Dissidenten Gleb Jakunin. Dieser hatte schon früher eine ähnliche Bewegung ins Leben gerufen, um die religiöse Freiheit in Rußland gesetzlich zu verankern.

Hat sich mit der neu- en Freiheit für die Kirche nun alles zum Besseren gewendet? Das wachsende Inter- esse und der rege Zu- lauf zu den Religions- gemeinschaften schei- nen diesen Schluß nahe zu legen. „Nein, ich glaube nicht", meint P. Alexandr: „Das neue Gesetz gibt uns zwar die Möglich- keit, unseren Glauben öffentlich zu verkünden. Es fehlt uns aber ein- fach an allem. An finanziellen Mög- lichkeiten, an Büchern, und was das schlimmste ist, an entsprechend ausgebildeten Priestern und Laien."

In ganz Moskau stehen für zehn Millionen Einwohner nur 60 Kir- chen und 200 Priester zur Verfü- gung. „Bis heute scheinen sie dabei nicht einmal überarbeitet zu sein", bemerkt Borissow.

Die orthodoxen Priester halten sich nämlich seit Jahren streng an die staatlichen Bestimmungen: Nichts als den Kult!

„Der Dienst an der heiligen Li- turgie nimmt sie dabei völlig in Be- schlag. Sie haben zwar Theologie studiert, sind aber unfähig zu un- terrichten, sie erschrecken gerade- zu bei dem Gedanken, etwas ande- res zu tun...", klagt P. Alexandr. „Der orthodoxe Klerus ist vollkom- men passiv, geradezu bewegungs- los... aus Angst vor der politischen Macht vermeidet er jegliche Ände- rung. Denn Partei und KGB haben noch nicht alle Macht verloren, vor- allem jene nicht, um die Kirche auch weiterhin einzuschüchtern."

P. Borissow erinnert hier an sei- nen geistigen Ziehvater, P. Alex- andr Men, der am 9. September 'dieses Jahres ermordet wurde. P. Men war einer jener seltenen ortho- doxen Priester, die mit intellektuel- lem Weitblick und spiritueller Tie- fe große Bedeutung bei vielen Gläu- bigen erlangt hatten. Durch sein couragiertes Auftreten in Schulen, Universitäten und ihn den Medien für mehr Freiheit wurde er man- chen offenbar zu unbequem, was ihm letztlich das Leben kostete.

„Ich verdanke ihm meine ganze spirituelle und menschliche Bil- dung", gesteht P. Borissow. Beide hatten auch ein ähnliches Schick- sal in ihrem Beruf zu erleiden.

P. Men bekam 25 Jahre lang kei- ne Anstellung als Priester, und P. Borissow blieb 16 Jahre lang nur einfacher Diakon. Sein intellektuel- les Ansehen und seine Weigerung, mit dem KGB zusammenzuarbei- ten, verschaffte ihm das ständige Mißtrauen seiner kirchlichen (und politischen) Vorgesetzten. Erst auf Inte|yention von Gleb Jakunin beim Leiter des „Amtes für religiöse An- gelegenheiten" wurde er zur Prie- sterweihe zugelassen.

Für viele aufgeklärte Gläubige in der Sowjetunion stellt sich aber mit dem neuen Gesetz die Frage: Was soll man tun mit dieser Freiheit? Nach 70 Jahren Unterdrückung und Kontrolle durch das System stellen sich für die Orthodoxe Kirche völ- lig neue Aufgaben. Neben die „vertikale" Dimension, der persön- lichen Beziehung zu Gott, tritt nun eine „horizontale" Beziehung, die Sorge um die Menschen in der Welt. Nachdem nun Priester und Gläu- bige nach jahrelangen Kämpfen ihre konfiszierten Kirchen vom Staat zurückbekommen haben, müssen sie als nächstes, wie Boris- sow es ausdrückte, „den Schritt aus diesen hinaus wagen".

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