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Betrachtung über den Schlaf

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Der Schlaf ist ein Filter, der die Ereignisse klärt und die Erregungen abklingen läßt.

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Der Schlaf ist ein Filter, der die Ereignisse klärt und die Erregungen abklingen läßt.

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Die winterliche Jahreszeit mit ihrem schlechten Wetter, der Dunkelheit und den bedrückenden Einflüssen auf den Gemütszustand weckt verlockende Vorstellungen von Winterschlaf.

Sich wie die dafür berühmten Murmeltiere dem Schlaf hinzugeben, der widerstandsfähig gegen Störungen ist, die Gegenwart aus dem Bewußtsein auszulöschen, das Bewußtsein selbst in Passivität aufzulösen, im vorgeburtlichen Zustand warmer Geborgenheit die Zeit zu verdämmern ohne ihren Tag- und Nachtwechsel, ohne Stundenplan, pflichtenthoben zu sein, bis zu helleren Tagen und freundlicherem Wetter, bis die Morgenstund wieder das Gold der Sonne im Mund hat.

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Vielleicht gilt die Sehnsucht nach Winterschlaf eher dem Zustand des Schlummerns, der einen Schimmer von Wahrnehmung zuläßt, sodaß man schlummernd den Schlummer selbst und die Nähe der schlummernden Nächsten und Liebsten genießen kann.

Auch nur eine einzige kurze Nacht gut zu schlafen ist vielen Menschen ein Problem. Schlaf gut, sagen wir - eine Gewohnheit tieferen Ursprungs, ähnlich dem Prosit, das wir dem Trinker wünschen. Unsere guten Wünsche sollen vor den Abgründen des Schlafes wie des Rausches bewahren. Im Schlaf zieht sich jeder in eine fremde Welt zurück, niemand kann ihn begleiten. „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt." Zwischen Abend und Morgen fließt die Nacht wie ein schwarzes Gewässer, das glücklich zu überqueren eines höheren Willens als des unseren bedarf.

Jeder Tag hat etwas von Neubeginn, jede Nacht etwas von Ende. Deshalb der weise Rat: Was du heute kannst besorgen, schiebe nicht auf morgen. Die Erfahrung lehrt allerdings, daß Eile nicht immer das klügste ist. Deshalb die Empfehlung: Schlaf noch einmal darüber.

Der Schlaf ist ein Filter, der die Ereignisse klärt und die Erregungen abklingen läßt. Am Morgen sieht manchmal alles ganz anders aus. Im Schlaf reifen die Gedanken, als hätten sie Zugang zu anderen

Kräften als denen des Verstandes. Eine Entscheidung vollendet sich. Ein Entschluß nimmt seine Form an. Den Seinen gibts der Herr im Schlaf, heißt es. Die andern, die Nichtseinen, müssen sich darum in wacher Mühe plagen.

Der Schlaf ist etwas Unschuldiges. Er kann nicht lügen. Wir sind seiner Ehrlichkeit ausgeliefert.

Während ihres Schlafes werden die Kinder vom Nikolaus beschenkt. Und nur wenn alles schläft, so erzählt das Märchen, kommen die Wichtelmännchen und besorgen alle Arbeiten. Wenn aber einmal einer aus Neugierde wach bleibt, verschwinden sie für immer.

Der Schlaf ist etwas Unschuldiges. Er kann nicht lügen. Wir sind seiner Ehrlichkeit ausgeliefert. Deshalb kann man mit der Beteuerung: das fällt mir nicht einmal im Schlaf ein, die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung zum Ausdruck bringen. Die Einfälle des Schlafes sind grenzenlos vielfältig. Das Bäumelein, das die Mutter schüttelt, damit die Träumelein herabfallen, läßt immer wieder neue nachwachsen. Nur selten schmecken sie wie süße Früchte. Die Mutter bedenkt wohl nicht, was sie uns mit dem Bäumchenschütteln antut. Wir werden nicht gefragt, ob und was wir träumen wollen.

Was kommt, muß erlitten werden. Da wäre es manchmal schon besser, schlaflos zu bleiben. „Schlaf du kommst nicht / Auch du / hast angst / In meinen gedanken erblickst du / den träum deinen / mörder." (Reiner Kunze, Nocturne).

Der Schlaf will behütet sein. Über den Kinderbetten hängen Schutzengelbilder, Vater laß die Augen dein über meinem Bette sein. Doch später, wenn man erwachsen ist, schläft man vor allem so, wie man sich bettet. Somit ist uns die Verantwortung für die Qualität unseres Schlafes, abgesehen von äußeren Störungen, selbst überlassen. Wenn man Probleme hat, hält sich der Schlaf fern. Er stellt sein Zeitkontingent zur Verfügung, bietet die stillen Nachtstunden dem Nachdenken über Problemlösungen an. So betrachtet, ist Schlaflosigkeit sinnvoll.

Doch unser Sinn ist auf Vergessen und Verdrängen aus. Der Schlaf ist ein Fluchtort, den man mit allen Mitteln erreichen will. Schlafend entzieht man sich dem äußeren Geschehen, nicht aber sich selbst. Es gibt viele Gründe, weshalb Schläfer sich auf zerknüllten Linnen hin und herwälzen als wäre das Bett ein Foltergerät.

Einer der häufigen könnte sein, daß ihnen das beste aller Ruhekissen fehlt, nämlich ein gutes Gewissen. Denn „Das Gewissen kommt wenn es Nacht ist /Es marschiert nach harten Takten / starr mit versengendem Tritt / reißt jede Erlösung mit verdirbt / was noch gut ist. Genießt / auch die letzte Hoffnung zu sprengen / mich mit Schwüren zu behängen / schwer mich zu werfen auf mich zurück." (Ulla Hahn. Wildnis).

* Doch den meisten nähert sich der Schlaf, besonders in der dunklen Jahreszeit, ehe er erwünscht ist. Man hat das Tagwerk noch nicht abgeschlossen, wehrt ihn daher ab, läßt ihn warten. Schließlich kommt er trotzdem, unwiderstehlich. Er nimmt das Bewußtsein an sich, hebt es spielerisch aus seiner Verankerung, sodaß wir eine Weile über der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen hin und herschweben. Bilder umkreisen uns. Die Sprache wechselt ihre Spur. Das Denken wird auf ein anderes Geleise gesetzt, und die Reise durch die Nacht beginnt.

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