7074742-1993_14_04.jpg
Digital In Arbeit

„Betroffenheit allein hilft niemandem weiter!"

19451960198020002020

31. August 1992, Wien-Südbahnhof, gegen 21 Uhr: Georg Mayer (26), Mag. phil., Lehrer für Geschichte und Englisch, in der linken Hand eine Reisetasche, in der rechten die Fahrkarte. Das Ziel seiner Reise ist Oswiecim - zu deutsch Auschwitz - in Polen. Dort wird er bis Ende August 1993 im Rahmen des Projekts „Gedenkdienst" als erster ausländischer Mitarbeiter im 1947 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau eingerichteten staatlichen „Muzeum" tätig sein.

19451960198020002020

31. August 1992, Wien-Südbahnhof, gegen 21 Uhr: Georg Mayer (26), Mag. phil., Lehrer für Geschichte und Englisch, in der linken Hand eine Reisetasche, in der rechten die Fahrkarte. Das Ziel seiner Reise ist Oswiecim - zu deutsch Auschwitz - in Polen. Dort wird er bis Ende August 1993 im Rahmen des Projekts „Gedenkdienst" als erster ausländischer Mitarbeiter im 1947 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau eingerichteten staatlichen „Muzeum" tätig sein.

Werbung
Werbung
Werbung

Gemäß einer Ende 1991 beschlossenen Zivildienstgesetz-Novelle gilt die einjährige Tätigkeit von Georg Mayer in der Holokaust-Gedenkstät-te als Zivildienstersatz. Für ihn ist die Entscheidung, als erster österreichischer Gedenk-dienstleistender nach Auschwitz zu fahren, nur zwei Monate zuvor, Ende Juni, beim ersten „Gedenkdienst"-Semi-nar in Salzburg gefallen. Zuvor hatte er darüber einen Radio beitrag mit Andreas Maislin-ger, dem Initiator und maßgeblichen Betreiber des Projekts, gehört und sich für das Seminar gemeldet. Freitag nachmittag im Bildungshaus St. Virgil mit der Gewißheit, Zivil-und nicht Militärdienst leisten zu wollen, angekommen, ist er Sonntag mittag als (ausgewählter künftiger Ge-denkdienstleistender nach Hause, nach Wörgl in Tirol, gefahren.

Das Projekt Gedenkdienst war zu diesem Zeitpunkt eher vage Idee als konkret strukturiertes Programm; Georg Mayer wagte das Abenteuer, hoffend, daß ihm der Gedenkdienst ermöglichen könnte, seine Zivildienerzeit mit etwas zu füllen, „das spannend und deshalb auch motivierend sein könnte".

Noch als Georg Mayer und Andreas Maislinger an diesem 31. August 1992 den Zug in Richtung Krakow besteigen, überwiegen offene Fragen und Probleme die bereits geklärten bei weitem. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine Finanzierungszusage für das Projekt Gedenkdienst. Die Regelung mit der Krankenkasse steht ebenso aus. Und Wohnung hat Georg Mayer in Oswiecim auch noch keine.

Gleich am nächsten Morgen, am 1. September, beginnt für Georg Mayer der Dienst im Archiv der Gedenkstätte. Von seinen Arbeitskollegen und -kolleginnen wird er freundlich aufgenommen. Verständigungsschwierigkeiten gibt es kaum: die Mitarbeiter im Archiv beherrschen Deutsch fast fließend, arbeiten sie doch beinahe ausschließlich mit deutschsprachigen Dokumenten. Der polnischen Presse wird der Gedenkdienstleistende aus Österreich am darauffolgenden Tag vorgestellt, die polnische Presse berichtet zahlreich und positiv über die österreichische Initiative.

19.Februar 1993,gegen 19.30 Uhr: eine Gruppe junger Österreicher trifft in Oswiecim ein, um das Museum des ehemaligen Konzentrations- und

Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zu besichtigen - und um ihren Freund Georg zu besuchen, ihm bei seiner Arbeit über die Schulter zu schauen. Seit der Verabschiedung Ende August am Wiener Südbahnhof wurden die strukturellen Probleme gelöst: die Finanzierung hat das österreichische Innenministerium übernommen. Eine Wohnung konnte kurzfristig gefunden werden - in der Straße des 3. Mai (Ul. 3go Maya), die, wie Georg erklärt, an die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, die erste geschriebene Verfassung Europas, erinnert - allerdings erst seit Ende der kommunistischen Herrschaft. Und Georgs Polnisch klingt fast professionell, einen Sprachkurs zur Festigung der Grammatik und Erweiterung des Vokabulars besucht er weiterhin.

Während der „regulären" Dienstzeit arbeitet er in der Computerabteilung des Archivs mit Jan Parcer an der elektronischen Erfassung und Aufarbeitung der - noch - vorhandenen, durchwegs deutschprachigen Dokumente, die mangels adäquater Konservierung dem zunehmenden Verfall preisgegeben sind. Seine Arbeit im Archiv will er als „Hilfe zur wissenschaftlich korrekten Aufarbeitung'' der Dokumente verstanden wissen.

Derzeit werden die Daten des Sterbebuchs von Auschwitz elektronisch erfaßt. Das Buch, das neben seinem Bildschirm liegt, enthält die Namen und Daten von Hunderten verstorbenen Häftlingen und reicht doch bloß über den Zeitraum eines knappen Monats.

Seine Deutsch- und Englischkenntnisse sind für die Bearbeitung der Korrespondenz des wissenschaftlichen Leiters, Waclaw Dlugoborski, ebenso gefragt wie für die Bearbeitung von Veröffentlichungen des Museumsverlages. Dabei kommt es des öfteren vor, daß er Druckfahnen abends zu Hause korrigiert.

Das Gelände des Stammlagers Auschwitz I, die in mehreren Blöcken gezeigte Ausstellung und das rund drei Kilometer entfernte, kaum überschaubar große Lager Auschwitz Ii-Birkenau hat Georg Mayer schon mehrmals besichtigt.

Den Torbogen mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei" passiert er mehrmals am Tag, sein Arbeitsplatz, das Archiv der Gedenkstätte, befindet sich innerhalb des ehemaligen Lagers in Block 24. Die Türen zu den Bürozimmern seiner Abteilung haben jeweils ein drei Zentimeter großes Guckloch - die Räume dienten einst auch als Lagerbordell. Das Stammlager selbst wurde vor fast 80 Jahren als k. u. k. Kaserne angelegt, dann bis zur reichsdeut-schen Invasion von der polnischen Armee genutzt und 1940 in ein Konzentrationslager umgewandelt.

Die spartanisch ausgestatteten Ausstellungsräume zeigen den Besuchern Berge von Haaren, die den (weiblichen) Häftlingen abgeschnitten worden waren, um daraus Gewebstoffe anzufertigen, Berge von Koffern, auf denen Namen und Adressen der Besitzer aufgemalt sind, Berge von Kochgeschirr, Zahnbürsten, Brillengläsern, Prothesen und so weiter -und unzählige Fotos von Häftlingen.

In der siebenköpfigen Österreichgruppe ist es, noch bevor der sogenannte Todesblock und die Todeswand erreicht ist, merklich ruhiger geworden. Auch die Fotoapparate werden kaum noch gezückt. Spätestens der Anblick grausamer Foltermethoden, wie beispielsweise Dunkelzellen, Stehbunker oder Zellen mit Sauerstoffreduzierung bis zum Ersticken - zusätzlich zum „normalen" Häftlingsalltag mit Unterernährung und Überarbeitung -, läßt die Besucher schweigend in ihrer Fassungslosigkeit verharren.

Unerbittlich treten der Gruppe auch die Dimensionen der Vernichtung in Auschwitz Ii-Birkenau vor Augen. Von der berüchtigten Rampe geht es nach der sogenannten Selektion entweder als Arbeitshäftling ins Lager oder gleich direkt zu den - kurz vor Befreiung des Lagers gesprengten - Gaskammern und Krematorien. Für mehr als eine Million Opfer war die jetzt für Besucher ausgeschilderte Route ein Weg ohne Rückkehr; ermordet wurden sie, weil sie Juden, Polen, Kriegsgefangene, Zigeuner, und oder weil sie behindert, zu jung oder zu alt zum Arbeiten, gläubig (Bibelforscher), in Opposition, homosexuell waren oder auf andere Weise nicht ins nationalsozialistische Konzept paßten.

Mehr noch als die Betroffenheit beim Besichtigen der noch erhaltenen Reste - stumme Zeugen - des Konzentrations- und Vernichtungslagers zählt das Bewußtmachen auch heute - noch oder wieder - bestehender Vorurteile beziehungsweise Vorverurteilungen all jener, die nicht zur gesellschaftlichen Mehrheit zählen, bis hin zur beabsichtigten Vernichtung ganzer Völker.

Im Interview mit dem Zick-Zack-Team von Ö 3 im Jänner fragt Georg Mayer: „Was ist meine Betroffenheit im Vergleich zu dem, was die Opfer durchgemacht haben? Was haben die davon? - Oder die Menschen in den Lagern im ehemaligen Jugoslawien?" Seine Folgerung ist wohl auch als Erklärung für sein Motiv, in Auschwitz Gedenkdienst zu leisten, zu verstehen: „Betroffenheit allein hilft niemandem weiter!"

Vor allem für die Finanzierung einer zweiten Gedenkdienst-Stelle im Museum Auschwitz und der Erweiterung des Gedenkdienstes auf andere Holokaust-Gedenkstätten werden Spenden erbeten: Konto Nr. 0200-106359 bei der Tiroler Sparkasse.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung