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Steuert Ungarns Ko- alitionsregierung einen „christlichen Kurs"? Sich als Christ zu bekennen, ist „in". Imre Mecs rechnet aber mit den „Sünden" der Vergan- genheit ab.

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Steuert Ungarns Ko- alitionsregierung einen „christlichen Kurs"? Sich als Christ zu bekennen, ist „in". Imre Mecs rechnet aber mit den „Sünden" der Vergan- genheit ab.

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FURCHE: Die ausgesprochen katholisch orientierte Christlich- demokratische Volkspartei Un- garns ist Mitglied der Koalitions- regierung. Sie als praktizierender Katholik gehören aber dem opposi- tionellen Bund Freier Demokraten (SZDSZ) an.

IMRE MECS: Ich bin Christ und Demokrat - aber ein freier Demo- krat; das heißt in meinem Fall so- viel, daß ich zu den Mitbegründern des Bundes gehöre, der über ein sehr starkes Zentrum verfügt, das zum größten Teil aus Menschen be- steht, die ähnlich denken wie ich.

FURCHE: Die sind aber zum größten Teil Protestanten.

MECS: Richtig. Aber ich bekenne mich zur Ökumene. Das Gefängnis hat mir dabei geholfen, in der Leh- re Christi das zu entdecken, was uns Menschen verbindet.

FURCHE: Angesichts der Ko- alitionsregierung, die vom Forum Ungarischer Demokraten, von der Partei der Kleinen Landwirte und von den Christdemokraten gebildet wird und sich auch Zentrumskoali- tion nennt, befürchten nicht weni- ge in Ungarn die Wiederbelebung des sogenannten „christlichen Kurses" der Vorkriegszeit.

MECS: Man kann kein zweites Mal denselben Pfad beschreiten. Zugleich muß ich als Christ dage- gen protestieren, daß man die Vor- kriegszeit mit dem Ausdruck „christlicher Kurs" bezeichnet. Auch das Forum-Bündnis mit den anderen Parteien kann man nicht als „christlich" abstempeln. Dies haben auch mehrere christliche Intellektuelle in der katholischen Wochenzeitung „Uj ember" aus- drücklich und protestierend unter- strichen.

FURCHE: Der neue Kultusmi- nister, Bertalan Andrdsfalvy, vom Demokratenforum plant die Ein- führung des Religionsunterrichts als Pflichtfach in den Schulen. Es heißt allerdings, jene, die sich daran nicht zu beteiligen wünschen, sollen eine Art „wertneutralen Religionskun- deunterricht" erhalten. Die Praxis könnte für Konflikte in den Schul- klassen sorgen, wo dann plötzlich Christen von NichtChristen getrennt werden, gar nicht zu reden von Kindern jüdischer Eltern, von de- nen viele bekanntlich nicht unbe- dingt religiös sind.

MECS: Auch mich würden die genauen Vorstellungen der Regie- rung hinsichtlich dieser Frage in- teressieren. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre, den Zustand, der vor der kommunistischen Machtüber- nahme herrschte, in puncto Reli- gion wiederherzustellen. Zugleich wäre die Einführung einer all- gemeinen Moral- und Ethikkunde in den Schulen - genauso wie die Bibelkunde, die ja zur Allgemein- bildung gehört - zu begrüßen. Der Religionsunterricht in den Pfarr- häusern hat sich in den vergange- nen Jahren als System weitgehend bewährt.

FURCHE: Es ist schon eigenartig, daß bei der Bekanntgabe der Regie- rungslistedie Öffentlichkeit nur von einer einzigen Person erfahren konnte, daß sie früher „keiner Par- tei " angehört hatte. Zugleich ist die Zahl jener Personen bei den Koali- tionsparteien, die auf einmal ihr glühendes Christentum entdeckt haben, auffallend hoch. Das ist umso eigenartiger, als die Tatsache viel zu sehr bekannt ist, daß Nicht- parteimitglieder im vergangenen Regime kaum die Chance hatten, Lehrstühle, Positionen und Sti- pendien zu erhalten. Nach der Moral zu fragen, wäre vielleicht übertrie- ben, doch die Frage nach dem Ge- schmack läßt sich nicht umgehen.

MECS: Der allgemeine öffentliche Geschmack muß hier noch heran- gebildet werden. Das ist unser Problem. Es gibt Beispiele dafür, daß manche den Mangel daran schlicht mißbrauchen. Ich denke dabei - ohne Namen zu nennen - an gestrige Denunzianten, an Perso- nen, die im Wahlkampf be- haupteten, ihres tiefen Glaubens wegen verfolgt gewesen zu sein, bei denen sich herausstellte, daß sie seinerzeit in ihren Lehrbüchern an den Universitäten die Existenz Christi bestritten, oder an den Bi- schof, der noch im Jahre 1983 in einer theologischen Schrift die Meinung vertrat, daß 1956 eine Konterrevolution stattgefunden habe, die auch eine Revolte gegen Gottes Wort gewesen sei.

Nun geht es nicht darum, daß diese Menschen gesündigt haben - Millionen haben hier gesündigt. Für die vergangenen Jahrzehnte ist hier jeder auf seine eigene Art verant- wortlich. Die Tatsache allerdings, daß nun diese Menschen massen- haft offen und unverblümt die Farbe wechseln, das finde ich beunruhi- gend.

FURCHE: Zu einem anderen Problem. Wenn die Regierung ihr Wirtschaftsprogramm konsequent durchzieht, wird es zu Massen- entlassungen kommen. Ist der libe- rale Bund Freier Demokraten be- reit, sich der kommenden sozialen Probleme anzunehmen?

MECS: Bei der Zusammen- stellung unseres Parteiprogramms haben wir uns ganz bewußt zu den positiven Traditionen der Sozial- demokratie bekannt. Und dies ist in den Wahlen auch bestätigt wor- den.

Mit Imre Mecs, Ingenieur, der als National- gardist zwei Jahre nach der Revolution von 1956 zum Tode verurteilt, nach einem Jahr in der Todeszelle auf lebenslänglich begnadigt wurde, sich seit 1963 auf freiem Fuß befindet, nach 1983 neue Verfolgungen zu erdulden hatte, Vorstands- mitglied des Bundes Freier Demokraten (mit 92 Mandaten im Parlament zweitstärkste ungari- sche Partei) sprach Gabor Kiszely.

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