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Bevölkerungs-„lmplosion"

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Auf unserem Kontinent ist von Bevölkerungsexplosion weit und breit keine Rede. Ein Blick auf die Daten zeigt vielmehr, daß hier die Gefahr der „Bevölkerungs-Implosion" droht. Mit Ausnahme von wenigen Ländern liegen die Fruchtbarkeitsdaten (= Zahl der Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter) unter dem zur Aufrechterhaltung eines bestehenden Bevölkerungsniveaus erforderlichen Wert von 2,1. Und das bei fast allen Ländern Westeuropas seit mehr als einem Jahrzehnt.

Noch erzeugt die wachsende Lebenserwartung den Eindruck stabiler Verhältnisse. Aber dieser Eindruck täuscht.

Auffallend ist die Situation derzeit

besonders in den Ländern Süd- und Osteuropas. Da hat es innerhalb kürzester Zeit ganz enorme Einbrüche gegeben. In der ehemaligen DDR etwa ist geradezu ein demographischer Zusammenbruch seit dem Fallen der Berliner Mauer zu verzeichnen. In nur drei Jahren, von 1988 bis 1991, sind die Geburtenzahlen dort auf weniger als die Hälfte gesunken, von 215.700 auf 107.000, allein von 1990 auf 1991 um 39 Prozent! Vergleichbares geschah in der ehemaligen DDR nur 1972, als dort die Abtreibung li-beralisiert worden ist. Damals sind die Geburten innerhalb von drei Monaten um 38 Prozent gefallen.

Würde man diese niedrige Fruchtbarkeit über 75 Jahre aufrechterhalten, so ergäbe sich am Ende der Periode folgendes Bild: 3,5 Todesfälle je

Geburt bei der derzeitigen gesamtdeutschen Fruchtbarkeit von 1,33. Der in der ehemaligen DDR verzeichnete Wert von 0,90 würde auf lange Sicht sogar zu 11 Todesfällen je Geburt führen und zu einer Bevölkerung, in der mehr als 50 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt ist.

Die jüngsten Ereignisse im Osten haben sich aber auch in in Rußland und Rumänien in einem Geburtenrückgang von 25 bis 30 Prozent innerhalb von nur zwei Jahren niedergeschlagen. Hingegen liegt Polen mit 2,04 Kindern pro Frau ungefähr am Gleichgewichts wert von 2,1.

Enorme Einbrüche gab es auch im Süden Europas, vor allem in Spanien: 660.000 Geburten vor 15 Jahren, aber nur mehr 368.500 im Vorjahr. Italien, das Land der „bambini", lag 1991 bei 1,25 (fast eine Halbierung seit 1964). Und auch Griechenland und Portugal sind stark rückläufig.Im Westen haben sich die Werte schon seit einiger Zeit auf niedrigem Niveau, das nicht zur langfristigen Erhaltung der Bevölkerung reicht, stabilisiert. In Österreich liegt der Wert bei 1,45 (1991 sogar bei 1,5), wobei im Burgenland mit 1,34 die niedrigste Geburtenfreudigkeit zu verzeichnen ist.

Diese niedrigen Werte sind keineswegs unbedenklich. Geburtenzahlen geben nämlich unter anderem auch einen Hinweis auf die psychische Situation ein Volkes. Das läßt sich am besten an den österreichischen Daten in diesem Jahrhundert illustrieren: starker Einbruch im ersten Weltkrieg, deutliche Erholung zu Beginn der zwanziger Jahre, massiver Rückgang in den dreißiger Jahren, starker Anstieg ab 1938, neuerliches Tief in der unmittelbaren Nachkriegszeit und schließlich neuer Aufschwung nach dem Staats vertrag. Seit Mitte der sechziger Jahre sinken die Werte wieder kontinuierlich. Hinweise auf die psychische Situation auch in anderen Ländern: In Frankreich etwa erreichte der Wert für die Fruchtbarkeit im Jahr von Verdun einen Tiefstwert von 1,21. Und Deutschland verzeichnete 1945, im Jahr der Niederlage, einen Wert von 1,45 nach Rekordwerten bis weit in den Krieg hinein...

Kinderwunsch hat etwas mit Zukunftsperspektive zu tun. Wo wenig Hoffnung, da keine Kinder. Insofern sagen die heutigen Werte auch etwas über das Klima in unserer Gesellschaft aus. Und der massive Rückgang im Osten zeigt nicht zuletzt, wieviel Verunsicherung die Liberalisierung dort hervorruft.

Kann man überhaupt noch Kinder in diese Welt setzen?, ist doch eine Frage, die sich viele nachdenkliche junge Menschen heute stellen.

Dieser auf breiter Front zu verzeichnende massive Geburtenrückgang ist nicht unproblematisch. Er könnte sich nämlich zu einem Teufelskreis der „Implosion" entwickeln: Je weniger Jugend nachwächst, umso mehr wird diese - sobald sie erwachsen ist - von der Last der nicht mehr erwerbstätigen Alten erdrückt. Für diese muß ja die nachwachsende Generation aufgrund des Generationenvertrages sorgen.

Die jungen Erwachsenen müssen sich also massiv ins Berufsleben einbringen. Es bleibt wenig Kapazität für die Familie, die Zahl der Nachkommen wird beschränkt. Der Franzose Philippe Bourcier de Carbon hat das als Gesetz der demographischen Schwerkraft beschrieben. Es macht das Herauskommen aus einer sich abwärts bewegenden demographischen Spirale sehr schwer.

Der Rückgang der Geburten in den letzten 20 Jahren in Europa unterscheidet sich von dem Rückgang um die Jahrhundertwende dadurch, daß er nicht Anpassung an die niedrigere Sterblichkeit und damit Stabilisierung des Bevölkerungsniveaus bewirkt, sondern langfristige Schrumpfungsprozesse auslöst. Deshalb gilt es hier gegenzusteuern. Daß gezielte Förderungsmaßnahmen hilfreich sind, zeigt das Beispiel Schwedens, dessen Werte zuletzt deutlich gestiegen sind.

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