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Bewältigung der Gegenwart

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Am Ausgang dieses Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg nachdenken? Lohnt das? Bewegt uns noch, was vor 75 Jahren endete?

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Am Ausgang dieses Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg nachdenken? Lohnt das? Bewegt uns noch, was vor 75 Jahren endete?

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Der Erste Weltkrieg ist in Österreich ein vergessener Krieg. Die Enkel der Kriegsgeneration sind größtenteils schon selbst Großeltern. Die Kleinheit des Landes, Österreich als Rest, wird heute nicht mehr als unangenehme Beschneidung, sondern als erfreulicher Umstand gewertet, der allgemeine europäische und globale Probleme hierzulande von vornherein auf ein kleineres Maß schraubt.

Manfried Rauchensteiner, Autor eines von Kritikern geradezu hymnisch gelobten Riesenwerkes über den Ersten Weltkrieg, meint, daß es sich lohnte, über den Zerfall des Habsburgerreiches nachzudenken. Das hätte mehr Sinn, betont der Direktor des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums im Arsenal, als bloß Gedenktage vor und nach dem 3. November abzufeiern - vor allem auf dem Hintergrund des Aufflammens eines neuen Nationalismus in Mittel-Osteuropa.

Bis vor kurzem, gibt Rauchensteiner in einem Gespräch mit der furche zu bedenken, sei die Wende im kommunistisch beherrschten Mitteleuropa von Gedankengängen bestimmt gewesen, die eine gewisse Sympathie für jenes Gebilde aufwiesen, das die Österreichisch-Ungarische Monarchie repräsentierte. Doch auch diese Sympathiewelle sei von einer „raschen Wende" erfaßt worden. Gegenwärtig herrscht in den Nachfolgestaaten - außer in Österreich, das den wirtschaftlichen Aufschwung geschafft hat - eine merkwürdig ambivalente Haltung vor: einerseits der Rückzug auf einen ökonomisch motivierten Nationalismus, der in der Abgrenzung vom anderen glaubt, wirtschaftliche Vorteile für sich selbst herausschlagen zu können. Andererseits besteht aber ein ungeheures Bedürfnis zu Zusammenschlüssen neuer Art.

Das vorherrschende Streben nach Sicherheit hat also einmal, im ökonomischen Bereich, eine zerstörende

Rückkehr zu nationalistischen Werten zur Folge. Auf der anderen Seite wollen sich gerade die ehemaligen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns Machtgebilden anschließen, die militärische Sicherheit bieten.

Für Rauchensteiner ist die Donaumonarchie ein derartiges Gebilde gewesen: eine Zone gemeinsamer Sicherheit und Stabilität, in der die Völker und Nationalitäten einen gleichen Anspruch mit gewissen Grundrechten hatten. „Und das besteht in den meisten Nachfolgestaaten heute nicht mehr", konstatiert der Zeit- und Militärhistoriker. Er verweist auf Bestrebungen der ersten Stunde nach der Wende um das Jahr 1989 - wenngleich dieser Prozeß in einigen ex-kommunistischen Staaten schon früher begonnen hat -, Historiker für das politische Geschäft in den Reformländern zu gewinnen. „Bei ihnen vermeinte man jene Kenntnisse zu finden, die für eine Umgestaltung der Gesellschaft notwendig waren, ohne in jene Fehler zu verfallen, die einst in den Abgrund führten."

Dieses Experiment ist jedoch -wie Rauchensteiner aus eigener Anschauung weiß - in den wenigsten Ländern gelungen. Die von einer Aufbruchstimmung geprägten Intellektuellen konnten nach dem Fall der Mauer und nach dem Aufziehen des Eisernen Vorhanges den aufkeimenden Mitteleuropa-Gedanken, der in Zeiten der Repression in manchen Köpfen Gestalt angenommen hatte, politisch nicht umsetzen. Mitteleuropa, habsburgisch eingefärbt, war wohl nur ein Hoffnungsstrohhalm, an den sich Intellektuelle mit Geschichtskenntnissen in realsozialistischen Staaten während der dunkelsten Zeit klammerten. Heute wird dieser Strohhalm nicht mehr gebraucht.

In diesem Zusammenhang ist es ein reizvoller Gedanke, von einer Bewältigung der ferneren Vergangenheit für die Staaten Zwischeneuropas (nach Forst-Battaglia) zu sprechen, während Österreich die jüngere Vergangenheit zu bewältigen habe. Rauchensteiner dazu: „Die mittel-osteuropäischen Staaten

müssen zuallererst ihre Gegenwart bewältigen. Sie haben erkannt, um welchen Preis sie in die Nationalstaatlichkeit gegangen sind. Alle müssen die finsteren Jahrzehnte des Kommunismus bewältigen."

Für Österreich stellt sich nach Rauchensteiner eine neue Art „Reichshaftung": es gilt, einen Beitrag zur Umgestaltung der Nachbarstaaten zu leisten, nicht in isolierter Weise und auch nicht im Sinne einer Übernahme einer neuen Führungsrolle - „auch wenn in Wien das Gedenken an dieses alte Reich am zwingendsten ist". Das seinerzeit bewunderte Modell Neutralität sei jedenfalls für die postkommunistischen Staaten tot. Eine bedeutende politische Rolle spielt Österreich in den Nachbarstaaten auch nicht.

Für den Zeithistoriker Rauchen-steiner ist klar: die Nachfolgestaaten stellen das Streben nach Wohlstand an erste Stelle; und dazu gesellt sich ein gewaltiges Sicherheitsbedürfnis, auf das ein neues Europa wird antworten müssen.

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