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Bewußtmacher der einen Unmoral

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Wir sprechen heute von einer zunehmenden Subjekti-vierung der Werte. Das will besagen, daß auch sehr zentrale menschliche und zwischenmenschliche Werte ihre absolute Gültigkeit verlieren und unter die Bedingung der Zumutbarkeit gestellt werden. Solche Zentr'alwer-te gelten nur so lange, als keine unzumutbaren Opfer abverlangt werden, wobei die Zumutbarkeit sehr individuell bestimmt wird.

Diese Subjektivierung der Werte ist mit ein Grund für das zunehmende Auseinanderfallen von individueller und sozialer Moral. Man ist durchaus noch gewillt, das unmittelbar erfahrbare zwischenmenschliche Verhalten unter einen Wert- und Normenkodex zu stellen, nicht aber das Verhalten anonymen Institutionen und Organisationen gegenüber. Hier erlöscht das Schuldbewußtsein, an seine Stelle treten die wertneutralen Begriffe von Erfolg und Mißerfolg.

Die Berechtigung dieses seines wertneutralen Verhaltens nimmt sich der Durchschnittsmensch nicht zuletzt aus der konkreten Begegnung mit dem, was er als „öffentliche Moral" erfährt. Dabei besteht die eigentliche Problematik nicht zuerst darin, daß einzelne Funktionäre und Machtträger amoralisch handeln, z. B. in Amtsmißbrauch und Korruption.

Die tiefere Problematik liegt vielmehr darin, daß der Eindruck entsteht, daß dieses Verhalten den bürokratischen Institutionen immanent ist und von ihnen nicht nur toleriert, sondern auch abgedeckt wird, solange es dazu dient, politische Erfolge einzubringen ...

Empirische Untersuchungen zeigen, daß die Einstellungen zu Werten heute in hohem Maß von dem übernommen werden, was man als „öffentliche Meinung" bezeichnet. Diese selber aber ist in sich wieder geteilt und widersprüchlich.

Trotzdem soll auch dieses noch gesagt werden: Allem Wandel in der Wertkultur zum Trotz gibt es noch einen beachtlichen Grundkonsens von Werten, auch wenn die letzte Begründung dieser Werte verschieden ausfallen mag.

Die Würde und Unverletzlichkeit der menschlichen Person gehört zu den Grundwerten im Konsens der freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Es gibt in der abendländischen Tradition einen harten Kern der Würde des Menschen als oberstes Maß allen Rechtes.

Wer die gesellschaftliche Entwicklung in der pluralistischen Gesellschaft von heute aufmerksam verfolgt, stellt auf der einen Seite fest, daß sich der Sicherung der Würde der menschlichen Person ganz neue Chancen erschließen.

Er stellt aber auf der anderen Seite ebenso fest, daß gerade von 1 der wachsenden Autonomie der Sachprozesse, der Anonymität der Sozialprozesse und von der Reduzierung der Wertkultur Vorgänge ausgelöst werden, die die Gefahr einer konsequenten De-formierung der Würde des Menschen als geistig-sittliche Person bedingen ___

Selbstverständlich muß die Würde der menschlichen Person, von verschiedenen Seiten her aufgebaut und geschützt werden, nicht zuletzt vom einzelnen Menschen selber. Aber eine der bedeutendsten Kräfte in der Verteidigung und Wiederherstellung der Würde des Menschen im Zerrei-bungsprozeß der industriellen Gesellschaft stellen auch das Recht und das richterliche Handeln dar.

Der demokratische Staat und seine Rechtsordnung sind wesentlich darauf ausgerichtet, das, was man als die „gestufte, selbstverantwortliche Gesellschaft" bezeichnet, zu fördern und zu verteidigen.

Ich stehe nicht an, zu sagen, daß dem richterlichen Handeln in der Erhaltung und Wiedergewinnung der selbstverantwortlichen Gesellschaft eine bedeutende Rolle zukommt.

So leistet z. B. der Richter überall dort einen gemeinschaftstiftenden Beitrag, wo er die notwendige Sorgfalt walten läßt, daß die gesellschaftliche Grundzelle nicht zum bloßen Tummelplatz individueller Egoismen wird; wo er im Dienst des Rechtes dafür sorgt, daß der gesellschaftliche Mittelbau nicht durch Korruption unterwandert wird und durch Machtintrigen moralisch verfällt;und schließlich, wo er durch sein rechtzeitiges richterliches Handeln dafür sorgt, daß persönliche Verantwortung in gesellschaftlichen Gebilden immer wieder beim Wort genommen wird.

Der freiheitlich-demokratische Staat maßt sich nicht an, die Wertüberzeugungen seiner Bürger obrigkeitlich zu erstellen und durch seine Rechtsordnung zu erzwingen. Er ist sich vielmehr darüber im klaren, daß die gesellschaftlichen Grundwerte aus einer Vielfalt von Wurzeln stammen und aus einem tiefen Zusammenhang als dem des Politischen kommen.

Trotzdem kommt der Rechtsordnung und damit dem Handeln des Richters in der pluralistischen Gesellschaft eine bedeutsame Aufgabe in der Verteidigung der in der Gesellschaft gegebenen und in der Rechtsordnung verankerten Werte zu.

Uberall dort, wo richterliches Handeln die Menschenwürde als gesellschaftlichen Grundwert verteidigt, handelt es wertsichernd; wo richterliches Tun die selbstverantwortliche Gesellschaft vor Mißbildung und Mißbrauch schützt, leistet es einen bedeutsamen Beitrag zur Erhaltung gesellschaftlicher Grundwerte.

Dadurch, daß das richterliche Handeln sich nicht einem äußeren Druck beugt, sondern seine Entscheidung auf der Wahrheit des Tatbestandes und der Norm des Gesetzes trifft, setzt er ein unübersehbares Signal, daß die Wahrheit einen gesellschaftlichen Grundwert darstellt.

Uberall dort, wo das richterliche Handeln keinen Unterschied der Person und auch zwischen privater und öffentlicher Unmoral macht, legt der Richter ein markantes Zeugnis für den Grundwert Gerechtigkeit ab.

Und überall dort, wo das richterliche Tun nicht ein bloß desinteressiertes Subsumieren von Tatbeständen unter Rechtsnormen ist, sondern darüber hinaus ein oft mühsames Versuchen, Ubereinkunft und Frieden zu stiften, leistet er einen wesentlichen sozialpädagogischen Beitrag zu der Einsicht, daß es im zwischenmenschlichen Leben nicht nur Konflikte, sondern auch Frieden und Versöhnung geben kann.

Der Verfasser ist Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der päpstlichen Grego-riana-Universität in Rom, der zu diesem Thema jüngst beim Osterr. Richtertag in Salzburg sprach.

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