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Bewußtseinstörungen

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Oskar Köhler, Professor für Universalgeschichte in Freiburg im Breisgau und Lektor des Herder-Verlages, hat dem gebildeten Publikum ein geistreiches Pamphlet beschert, das bezeichnenderweise nicht beim Herder-Verlag, bei dem Köhler seit langem angestellt ist, erschienen ist.

„Halbwahrheiten sind gefährlicher als Irrtümer“, sagt ein altes Sprichwort und um eine geistvolle Sammlung von Halbwahrheiten handelt es sich auch in dem 1972 im Knecht-Verlag erschienenen Buch „Bewußtseinsstörungen im Katholizismus“. Schon die Form der Arbeit ist höchst originell und macht das Werk auch für Nichtfachleute zugänglich: Aus heutigem Bewußtseinshorizont heraus werden Skandale der Kirchengeschichte der letzten hundert Jahre in fingierten Reden, Briefen und Tagebucheintragungen beleuchtet. Im Anschluß daran findet der Leser einige Quellenzitate, deren Repräsentativi-tät in keinem einzigen Fall nachgewiesen ist. Jeder, der dieses Buch liest und dem die Detailkenntnisse der Geschichte fehlen, wird von diesem bestechend geistreichen Werk begeistert sein. Der Leser wird schnell dabei vergessen, daß Geschichte nur aus dem zeithistorischen Hintergrund zu bewerten und es darum auch ungerecht ist, unser heutiges Wissen etwa über den Moderni-stenstreit in die Vergangenheit zu-rückzuprojizieren und dann in fingierten Reden Prophezeiungen auszusprechen, die sich damit als vati-cinium ex eventu entpuppen?

Köhler hält dem Katholizismus die Schicksale rund um den Modernismusstreit entgegen. Er will zeigen, „wie gestört das Verhältnis des Katholizismus zur Geschichte im allgemeinen und zu seiner eigenen im besonderen ist“. Uber den vielen Details seines Buches vermag er jedoch das Ganze nicht zu sehen: Obwohl das Buch von der ersten bis zur letzten Seite die verschiedensten und konträrsten Meinungen innerhalb des Katholizismus behandelt, sich ihm die Gleichzeitigkeit verschiedener Meinungen in der Kirche hätte ja aufdrängen müssen, polemisiert er ständig gegen „den“ Katholizismus. Geht der Leser des glänzend geschriebenen Werkes jedoch an einzelnen Detailpunkten unter die Oberfläche, gräbt er unter Köhlers Behauptungen in die Tiefe, so werden die Geschichsklitterungen geradezu überall evident. Um die Methodik derartiger „Westentaschen-Voltaires“ einmal aufzudecken, sei es gestattet, einer besonders bösartigen Verleumdung Köhlers am Detail auf den Grund zu gehen.

Ein Kapitel Köhlers behandelt den Theologen und Historiker Johannes Janssen, dessen Leben und Werke ich in mehrjähriger Arbeit einer subtilen Analyse und Kritik unterziehen konnte. Janssen war ein außerordentlich feinsinniger, gebildeter, sensibler Priester, der mitten während des Kulturkampfes 1875 durch den plötzlichen Tod eines Abgeordneten über die Liste des Zentrums ins Berliner Abgeordnetenhaus nachrücken mußte. Wie gesagt, Janssen kam auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes in das Parlament. Ein sensibler Mensch wie er konnte sich darin, noch dazu in einer so überhitzten Situation, niemals wohlfühlen und er drängte dann ja auch sehr schnell auf seinen Rücktritt. Über die ersten Sitzungen im Parlament war Janssen entsetzt und schrieb voller Zorn, sein Respekt vor dieser Art von Konstitutionalismus sei dahin. Dieser Satz wird — völlig aus dem Zusammenhang gerissen und ohne Kontext — der Pf euer einer ganzen Geschichtskonstruktion Jans-sens. Verweilen wir noch kurz bei dem Satz: Köhler hat aus einem langen Brief willkürlich diesen einen Satz herausgerissen. Zwischen zwei Satzfetzen hat er genau folgende Stelle ausgelassen: „Auch gestern war wieder eine ähnlich erregte Sitzung über die Vermögensverwaltung der katholischen Gemeinden. Sie können nicht glauben, wie gemein der vierundachtzigjährige Herr (Ludwig) von Gerlach verhöhnt wurde. Die Kerle lachten, pfiffen, trampelten mit den Füßen — und sie lachten und höhnten ebenso, als (August) Reichensperger in einer prachtvollen Rede gelegentlich von dem infalliblen Charakter der Heiligen Schrift sprach! Als aus ihren eigenen Reihen sich ein weißer Rabe erhob, der wenigstens in einem einzigen Punkt eine Veränderung der Gesetzesvorlage zugunsten des Pfarrers der Gemeinde vorschlug, war das Geschrei und Gejohle so entsetzlich, daß man kaum den einen oder anderen Satz der Rede verstehen konnte und der Präsident vergeblich dreimal mit der Glocke läutete.“ Dies also ist der Kontext des erregten Satzes des Ästheten Janssen, schon in der ersten Woche in Berlin sei sein Respekt vor dieser Art von Parlamentarismus geschwunden!

Auf diesem atomisierten Satz Janssens wird dann das Gebäude der Köhlerschen Geschichtsschau errichtet: Janssen sei der geistige Vater einer „retrospektiven Ideologisie-rung einer einstmaligen geschichtlichen Wirklichkeit“ gewesen, indem er den Ghettokatholizismus vorbereitet habe, der eine Assimilation der Katholiken im „2. Reich“ und der Weimarer Republik verhindert habe und im Rückgriff auf das Hl. Römische Reich eine Sehnsucht nach einem katholischen Reich geschaffen hat, die in ihrem antirepublikanischen Sehnen nach einem „3. Reich“ Zubringerdienste dem Nationalsozialismus geleistet habe. Die „Naivität“ Janssens habe zu einer „Verirrung“ und zu einem „Ghettokatholizismus“ geführt, der auf der reaktionären Grundlage einer „Ideologie einer sakralen Welt“ gestanden habe. Die Konsequenzen seien evident: „Was jedenfalls zutage tritt, das ist die Anfälligkeit des Katholizismus für jedes autoritaristische System“.

Dem Kenner der Geschichte ist es nicht unbekannt, daß es tatsächlich eine kleine Gruppe von „Reichstheologen“ gab, mit einer im Grunde reaktionären Sehnsucht, aus dem Ghettozustand heraus in ein „Drittes Reich“ mit einem „Führerprinzip“ zu schreiten und dem republikanischen Individualismus „Law and order“ entgegenzusetzen. Eine solche Richtung hat es in der Tat gegeben. Dahinter stand jedoch nicht „der“ Katholizismus, sondern eine kleine Gruppe, angeführt von Leuten wie — Oskar Köhler, der etwa 1933 in seinem Aufsatz „Das Reich hier und jetzt“ schrieb: „Deutschland als Republik war undenkbar als Träger des Reiches... Das deutsche Volk muß als Autorität unter den abendländischen Nationen die Reichsaufgabe erfüllen — und diese Autorität ist nur personal denkbar. Eine vom parlamentarischen Vertrauen abhängige und stürzbare Regierung kann niemals Reichsautorität sein. Dem einen umfassenden Ziel muß auch hi— der eine Daraufhin-Führende entsprechen. Das natürliche Prinzip des Einen ist eine Spiegelung des Übernatürlichen. Dem einen Gott entspricht der eine höchste Führer.“ „Frankreichs ,Paneuropa' ist eine geschieh tliJie Konstruktion — wir Deutsche haben das geschichtliche Recht auf das Reich.“ Der liberale Staat müsse überwunden werden und mit ihm die Demokratie, denn „nicht von der politischen Struktur der Weimarer Republik — wohl aber von der des nationalsozialistischen Totalitätsstaates her eröffnen sich Möglichkeiten zur Neugestaltung der Reichsaufgabe“. „Sagen wir es dem deutschen Volk an dem Ort, wo wir stehen, täglich und stündlich: Ihr seid ein auserwähltes Volk, ihr habt eine Mission, von deren Erfüllung das Leben des Abendlandes abhängt. Fürchten wir uns nicht vor unserer Aufgab; zum Reich.“ Die Anfälligkeit für das autoritaristische System ist damit bei Oskar Köhler evident. Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, wie klar und eindeutig derartigen pseudotheologischen Konstruktionen bereits damals von katholischer Seite widersprochen wurde. Ich verweise hier nur auf das ausgezeichnete Werk „Die Vision des Reiches Gottes“ von Klaus Breu-ning, das den ganzen Vorgang analysiert. Es seien nur ein paar Zitate der Gegenrichtung vermerkt: 1920 betonte Heinrich Getzens, daß als Antwort auf den „nationalen Egoismus der Neuzeit... vom christlichen Standpunkt aus die Idee der Solidarität der Nationen gegenüber ihrem Kulturkreis... betont werden müsse.“ Georg Moenius wurde noch deutlicher: „Heute gibt es jedenfalls kein Land, wo gegen die Reichsidee so gefrevelt wird wie in Deutschland ... Die Idee des Reiches ist in Deutschland neuerdings ans Kreuz geschlagen, diesmal freilich nicht an das Eiserne Kreuz, sondern an das Hakenkreuz.“

Breuning untersucht auch den geistigen Bewußtseinshorizont Köhlers und der übrigen „Reichstheologen“ und stellt fest, daß diese Auffassung dem hierarchisch-reaktionären

Denkmodell, Antidemokratismus und Antipluralismus, Chiliasmus, der Verwischung der Grenzen von biblischem Heilsgeschehen und politischem Geschehcm, der Inbeziehung-setzung Deutschlands zum Gottesvolk des Alten Bundes und der Abwehrstellung gegen die Säkularisierung des Lebens entspringt. Die Reichstheologie und das Denken Oskar Köhlers waren also im Grunde reaktionär und „eine Verfälschung der neutestamentlichen Botschaft.“

Es soll hier nicht mit Oskar Köhler „abgerechnet“ werden. Seine Beschuldigung „des“ Katholizismus jedoch, antidemokratisch und autori-taristisch zu sein, widerspricht nicht nur seiner doch in seinem Buche irgendwie implizierten Erkenntnis der Gleichzeitigkeit der Meinungen im Katholizismus, sondern ist auch in keiner Weise für „den“ Katholizismus repräsentativ und geht wohl aus seiner eigenen persönlichen un-bewältigten Vergangenheit hervor, für die nun „derM Katholizismus zum Sündenbock gestempelt wird. Diese Verunglimpfung zwingt uns, auf die Vergangenheit zurückzugehen. Klaus Breuning stellte auch fest, daß die Hinwendung einiger Theologen zum NS 1933 von der großen Masse des Katholizismus nicht mitvollzogen wurde. Es handelt sich also bei obigen Behauptungen in der Tat um „Bewußtseinsstörungen“ — Bewußtseinsstörungen bei Oskar Köhler, dessen Satz ich nur zustimmen kann: „So einfach macht es uns die Geschichte nicht!

BEWUSSTSEINSTÖRUNGEN IM KATHOLIZISMUS. Von Oskar Köhler, Frankfurt 1972, Knecht, 268 S.

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