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Bilanz der Reform:

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Neufassung des Paragraphen 218 führt zu Spannung mit Kirche

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Neufassung des Paragraphen 218 führt zu Spannung mit Kirche

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Der Bonner regierungsamtlichen Propaganda für den Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen hat die katholische Kirche in der BRD am Ende der politischen Sommerpause offen den Kampf angesagt. Zu Beginn der großen Urlaubs welle - ein Jahr nach der „Reform“ des Abtreibungsparagraphen 218 StGB, die mit SPD/FDP-Mehrheit durch den Bundestag gepeitscht worden und am 21. Juni 1976 in Kraft getreten war - hatte das Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit durch die Publizierung bisheriger Erfahrungen mit dem neuen Gesetz eine Bilanz deutlich werden lasssen, die zutiefst erschrecken ließ. Und dies, obwohl sie alle schon längst vor der Novellierung geäußerten Befürchtungen bloß bestätigte.

Doch nicht nur, daß die Bundesregierung das totale Scheitern ihrer Abtreibungspolitik nicht eingestehen will, sie versuchte sogar, die geradezu apokalyptische Statistik der legalen Morde in einer so routiniert gefälligen Reklamesprache zu verkaufen, daß man an einen Werbetexter erinnert sein könnte, der wider besseres Wissen ein häufig tödlich wirkendes Medikament besingt: Während sich die Zahl der gesetzlich straffreien Tötungen Ungeborener seit der Novellierung verdreifacht hat, empfand es Staatssekretär Hans Georg Wolters vom Familienministerium als einen Sieg, daß ganze 16 Prozent der Frauen nach einer Schwangerschaftsberatung entschlossen sind, ihr Kind auszutragen. Dementsprechend müßte Wolters bei der Erläuterung eines Forschungsberichtes, wonach 84 Prozent aller Raucher vom Lungenkrebs befallen würden, triumphierend verkünden, daß die restlichen 16 Prozent einen schlagenden Nachweis für die ge- sundheitsfördende Wirkung des Rauchens büdeten.

Doch selbst, wenn man 16 Prozent als Zeichen für den naiven, aber doch ehrbaren Glauben des Staatssekretärs an ein bescheidenes, indes solide sprießendes Pflänzchen nehmen wollte, so muß es vollends an politische Schizophrenie gemahnen, wenn Wolter die „bedenkliche Praxis“ katholischer Schwangeren-Beratungsstellen massiv beklagt, da diese Abtreibungen durch gezielte Hilfestellungen für Mutter und Kind zu verhindern suchten. Verwirrend? Nur auf den ersten Blick. Der zweite läßt hinter diesem Wahnsinn Methode erkennen: Daß der Bericht des Familienministeriums nicht mit einem einzigen Wort vom Schutz des ungeborenen Lebens spricht, läßt sich nicht etwa als Vergeßlichkeit hinstellen. Derartige Formulierungen sind überflüssig geworden. Man schreit allenfalls noch beleidigt auf, wenn die katholische Kirche durch das Kommissariat der Bischöfe festhält, daß die Bundesregierung „Edle Mittel einsetzen will, um die Abtreibungsmöglichkeiten weiter zu erleichtern.“

Die bittere Wirklichkeit von über einem Jahr „Engelmacher-Reform“ lautet, daß rund 60.000 Frauen pro Jahr in der Bundesrepublik ihre Schwangerschaft ganz offiziell abbrechen lassen. Vor der Gesetzesänderung gab es jährlich 20.000 legale Abtreibungen. Die Rechenkolonne des Tötens interpretierte Staatssekretär Wolters: Frauen, die „in Not“ und „unabänderlich“ abtreiben wollten, hätten „Anspruch auf jede menschliche und in unserem Rechts- und Sozialstaat mögliche Hilfe“. Humanität auf makaber. Wie sich im Sozialstaat „unabänderlich“ oder „in Not“ definieren läßt, verschwimmt hinter ideologischen Dunstwolken ebenso, wie die noch nie bewiesene Behauptung der Abtreibungsreformer, sie würden mit dem geänderten Paragraphen 218 StGB die ohnehin stattfindenen Schwangerschaftsab- brüche lediglich aus der Illegalität herausholen.

Den seit Anfang des Ringens unerschrocken, frontalen Protest der katholischen Kirche versuchte Staatssekretär Wolters im Gegenangriff zu parieren: Die dem Opportunismus konsequent trotzende Haltung der katholischen und evangelischen Krankenhäuser, die sich weigern, soziale Notlagen als Gründe für Abtreibung anzuerkennen, sei gerade so „bedenklich“, wie die Arbeit der konfessionellen Beratungsstellen. Dahinter freilich erspürt der sozialdemokratische Staatssekretär reaktionäre Ideologie: Es gebe für die Frauen in der Bundesrepublik eben keine Chancengleichheit.

Der Feststellung aus dem Kommissariat der deutschen Bischöfe, daß der Bericht des Ministeriums eine so unbegreifliche Teilnahmslosigkeit offenbare, als handele es sich um eine Liste nebensächlicher Konsumprodukte, dieser bitteren Anklage steht Eils vielsagender Kontrast die Feststellung des Gesundheits-Staatssekretärs gegenüber: Die Abtreibungs-Kapazität der bundesdeutschen Krankenhäuser würde je nach notwendiger Behandlungsdauer füt 100.000 bis 250.000 Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr ausreichen. Für etwas über 100.000 Fälle lebensunwerten Lebens reichte die großdeutsche Vernichtungs-Kapazität in den Jahren 1939 bis 1941…

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