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Bilanz eines Gedenkjahres

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Wie steht die Kirche nach der Überwindung des realen Sozialismus zum Kapitalismus? Johannes Schasching analysiert die Reaktionen auf die Enzyklika „Cente-simus annus", die 100 Jahre katholische Soziallehre abrundete.

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Wie steht die Kirche nach der Überwindung des realen Sozialismus zum Kapitalismus? Johannes Schasching analysiert die Reaktionen auf die Enzyklika „Cente-simus annus", die 100 Jahre katholische Soziallehre abrundete.

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In Erinnerung an das erste Sozialrundschreiben „Rerum novarum" hatte Johannes Paul II. das Jahr 1991 zum Gedenkjahr der Soziallehre der Kirche erklärt. Das Jubeljahr begann eher mühsam. 1891 liegt weit zurück, und die Probleme der heutigen Menschen sind so verschieden von damals.

Die Situation änderte sich, als der Papst seine neue Sozialenzyklika „Centesimus annus" ankündigte. Nicht nur Journalisten, sondern ebenso Politiker, Manager und Vertreter der Hochfinanz konzentrierten sich auf die zentrale Frage: Wie steht der Papst nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus zum siegreichen Kapitalismus?

Im Vatikan befinden sich zwei dicke Bände mit den Reaktionen aus der ganzen Welt. Das Mises-Institut in Washington prophezeite: .„Centesimus annus' wird die am meisten diskutierte Enzyklika dieses Jahrhunderts sein." Die Wall-Street-Zeitung von New York sah in „Centesimus annus" die „eindeutige Bestätigung der freien Marktwirtschaft". Eine angesehene europäische Zeitung schrieb so: „Wenn man weiß, wie lange der traditionelle Katholizismus gebraucht hat, bis er zu einem Sachverständnis der modernen Wirtschaft gelangt ist, dann weiß man es zu schätzen, daß das, was die Enzyklika beschreibt, der moderne Kapitalismus ist." Und eine spöttische Stimme fügte hinzu: .Jener Mann, den man als den letzten Sozialisten bezeichnet hat, spricht nun endlich zugunsten des freien Marktes."

Es gab aber auch kritische Stimmen: Wenn „Centesimus annus" sagt, daß der Kapitalismus zur Konsumgesellschaft führt, dann vergißt der Papst, daß dies nicht die Schuld des Wirtschaftssystems ist, sondern des Versagens der moralischen Kräfte. Eine andere Kritik: „Centesimus annus" enthält trotz allem Wirtschaftsrealis-mus noch immer betriebsromantische Vorstellungen. Die rechtliche und organisatorische Dominanz des Kapitals hilft dem Arbeiter mehr als alle laboristischen Modelle.

Eine dritte Kritik: „Centesimus annus" ist noch immer von der augu-stinischen Konzeption geprägt: Die irdische Welt ist vom Bösen und kann nur durch die Annahme der Wahrheit, wie sie die Kirche sieht, gerettet werden. Theologische Aussagen können dazu dienen, Solidarität zu stiften, nicht aber dazu, Wirtschaftsabläufe zu erklären.

„Treffen im Vatikan" vom 14. bis 17. Jänner 1992. So stand es auf den aufwendigen, mehrsprachigen Einladungen. Obwohl das Treffen in den mittelalterlichen Borgia-Gemächern stattfand, war es nicht vom Vatikan veranstaltet.

Die Teilnehmerliste sorgte für eine weitere Überraschung: Vertreter der Akademie der Wissenschaften aus Moskau, der ehemalige Sicherheitssprecher des Weißen Hauses, Ministerpräsidenten aus der früheren DDR, ein jüdischer Philosoph, Politiker unterschiedlichster Richtungen und hochrangige Fachleute der Wirtschaft. Das gemeinsame Gesprächsthema: „Kapitalismus und Ethik", oder konkreter gesagt:

Kann der Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die weltweiten Herausforderungen ohne ethische Werte beantworten? Das ist genau das Thema von „Centesimus annus".

Wer sich von diesem „Treffen im Vatikan" fertige Antworten erwartet hat, mußte enttäuscht werden. Wichtiger war, daß von Fachleuten die weltweiten Probleme formuliert und für ihre Lösung immer wieder die moralischen Kräfte angefragt wurden. Diese Anfragen lassen sich so zusammenfassen:

Erstens: Den Ländern Mittel- und Osteuropas, aber ebenso den Entwicklungsländern wird immer wieder gesagt: Ihr werdet Hilfe bekommen, wenn ihr die Marktwirtschaft einführt. Diese Länder aber melden zurück: Wir können die Marktwirtschaft nicht einführen, wenn wir nicht zuerst die Voraussetzungen dafür schaffen. Dazu brauchen wir Hilfe. Aus welcher Solidarität kommt diese Hilfe?

Zweitens: Nach „Centesimus annus" bestand eine der Hauptursachen für den Zusammenbruch des realen Sozialismus darin, daß ihm die Arbeit, auf der dieser Sozialismus angeblich aufruhte, enttäuscht und ausgebeutet die Legitimation entzog. Wie weit ist die Marktwirtschaft imstande, der Arbeit sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern jene Rolle der Partnerschaft zu geben, die sie vom realen Sozialismus grundsätzlich unterscheidet? Welche Folgen ergeben sich aus dieser Rolle für die organisierte Arbeit?

Drittens: Damit war eine heikle Frage verbunden: Mehrmals hörte man: Natürlich muß auch der Kapitalismus in einer Welt leben, in der es Ethik und Werte gibt. Aber diese Werte sind nicht in der Wirtschaft, sondern in den anderen Bereichen der Gesellschaft anzusiedeln: in den Kirchen, in den Schulen, in den Kulturbereichen. Die Wirtschaft selber hat nach den Gesetzen der Sachvernunft abzulaufen und die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Menschen in ihrem Privatleben ethisch handeln können.

Dieser Meinung wurde heftig widersprochen. Die Antwort auf die Frage aber, wo in der Wirtschaft selber Ethik anzusiedeln sei, blieb unscharf.

Viertens: Ein USA-Vertreter formulierte diese Anfrage so: Der Kapitalismus, oder wie immer man das System der Marktwirtschaft auch bezeichnen mag, ist nicht durch ein wirtschaftliches Versagen bedroht. Bedrohlicher ist es, daß er nicht nur die natürlichen Ressourcen überstark verzehrt, sondern auch die menschlichen und zwischenmenschlichen: Solidarität, Gerechtigkeit, weltweite Verantwortung. Natürlich tut er das nicht allein, aber er trägt stark dazu bei, auch wenn der einzelne es nicht beabsichtigt.

Wiederum wurde gesagt: Natürlich kann die Marktwirtschaft diese Werte nicht erzeugen. Es braucht auch andere Zubringer. Aber auch die Wirtschaft selber muß ihren Beitrag dazu leisten und zwar aus Einsichten, die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen.

Fünftens: Es war vorauszusehen, daß sich die letzte Anfrage an die Religionen und Kirchen richten würde. Wenn die innerstaatlichen und weltweiten Herausforderungen nur mehr durch einen geistigen Konsens bewältigt werden können, dann stellt sich die Frage, ob sich die Kirchen ihrer Verantwortung bewußt sind. Ob sie bei aller Treue zu ihrer religiösen Sendung jene Werte vermitteln, die die Welt von heute dringend braucht, und ob sie dafür Leitbilder stellen?

Bilanz eines Gedenkjahres? Es war gut, daß das Gedenkjahr nicht mit einem pompösen Fest abgeschlossen wurde, sondern, daß sich Menschen und gesellschaftliche Gruppen verschiedenster Richtungen zu einem offenen Dialog im Vatikan trafen. Das war genau im Sinn der Enzyklika „Centesimus annus": „Der Mensch ist der Weg der Kirche."

Der Autor war Professor für Sozialethik an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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