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Bilanz und Ausblick

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Nach fünfzig Jahren ist es möglich, die vorläufige Bilanz der Pan-europabewegung zu ziehen.

In 50 Jahren ist es uns gelungen, die uralte Idee eines Vereinigten Europa aus einem schönen Traum in eine politische Bewegung zu verwandeln und mit ihrer Hilfe eine Reihe historischer Tatsachen zu schaffen, deren bisher wichtigste der Europarat und der Europamarkt sind. Als dritte ist die politische Union Europas auf dem Wege zur Verwirklichung.

Die Paneuropa-Bewegung, die aus dem ersten Weltkrieg hervorgegangen war, hat sich nach dem zweiten Weltkrieg in eine Vielfalt von Organisationen gespalten. Jede dieser Organisationen hat ihren Anteil an der zunehmenden Einigung Europas. Die Paneuropa-Union ist nicht mehr die einzige Trägerin des Europagedankens. Erst eine künftige Geschichtsschreibung wird ihre Bedeutung beurteilen und bemessen können.

Infolgedessen feierte 1972 nicht nur die Paneuropa-Union ihr Jubiläum, sondern mit ihr die große Bewegung, die aus ihrer Initiative hervorgegangen ist und unter verschiedenen Namen für unser gemeinsames Ziel arbeitet: für die Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa.

Die positiven Ergebnisse dieses Kampfes sind: daß Europa seit 1949 sich in inen politischen Begriff verwandelt hat; daß durch die deutsch-französische Versöhnung ein europäischer Bruderkrieg sehr unwahrscheinlich geworden ist; daß unser Kontinent durch die Schaffung des Europamarktes heute eine wirtschaftliche Weltmacht geworden ist; daß Amerika den europäischen Zusammenschluß fördert; daß es mit amerikanischer Hilfe gelungen ist, den russischen Eroberungszug nach dem Westen am Eisernen Vorhang zum Stehen zu bringen; daß heute eine überwältigende Mehrheit der Eropäer aller Parteien von' der Notwendigkeit des europäischen Zusammenschlusses überzeugt ist.

Leider ist es der Paneuropabewe-gung nicht gelungen, einen echten europäischen Patriotismus zu erzeugen, vergleichbar der nationalen Bewegung in Deutschland und Italien vor deren Einigung.

In ihrer großen Mehrheit sind die Europäer Nationalisten geblieben. Sie befürworten den europäischen Einheitsgedanken, soweit dies nicht auf Kosten ihrer Nation geht. Kommt es aber zu einem Konflikt zwischen nationalen und kontinentalen Interessen, entscheidet ihr Herz für die Nation.

Die Zahl echter europäischer Patrioten ist recht klein. Tröstlich aber ist, daß sie im Wachsen begriffen ist, vor allem innerhalb der jungen

Generation. Eines Tages, wenn diese junge Generation die Schlüsselstellungen der Regierungen und der Wirtschaft besetzen wird, wird d;ese Minderheit zur Mehrheit werden. Erst diese Generation wird den Europäischen Staatenbund umschaf-fen in echte Vereinigte Staaten von Europa.

*

Dieses große Ziel der Paneuropabe-wegung bleibt unverändert, obgleich sich die Weltpolitik in diesen fünfzig Jahren gründlich verändert hat.

Vor wenigen Jahren waren die drei Hauptmotive für unsere Bewegung: die Sicherheit des europäischen Friedens, der Schutz gegen die russische Gefahr und die Sicherung des europäischen Wohlstandes.

Diese drei Probleme haben inzwischen ein neues Gesicht bekommen. Durch die deutsch-französische Versöhnung ist die Gefahr eines europäischen Bruderkrieges sehr gering geworden. Der Schwerpunkt der Verteidigung Europas gegen die russische Gefahr liegt nicht mehr bei Paneuropa, sondern bei der NATO, da Europa allein, selbst wenn es einig ist, seine Grenzen ohne Amerika militärisch nicht sichern kann.

Schließlich ist der Europamarkt aus einer paneuropäischen Forderung zur internationalen Tatsache geworden.

Dennnoch behalten diese drei Motive, in veränderter Form, ihre Bedeutung.

Dank vor allem der beiden Staatsmänner Adenauer und de Gaulle ist die deutsch-französische Versöhnung zur Tatsache geworden — nach elf Jahrhunderten der Erbfeindschaft. Aber sie ist vor Rückschlägen nicht gesichert. Sollte in Deutschland eine Regierung ans Ruder kommen, der die russische Zustimmung zur nationalen Wiedervereingung wesentlicher erscheint als der Europagedanke, oder in Frankreich eine Regierung der Volksfront — dann wäre das deutsch-französische Versöhnungswerk und damit der europäische Friede von neuem bedroht.

Militärisch liegt der Schwerpunkt der Verteidigung Europas gegen Rußland in Amerika — aber politisch in Europa. In jedem europäischen Staat sitzt ein Trojanisches Pferd: die kommunistische Partei.

Die Sowjetunion will keinen Atomkrieg führen, um Europa selbstmörderisch zu unterjochen: aber sie wird alles tun, um die europäische Einheit zu verhindern oder zu untergraben — im Zeichen des Neutralismus oder des Friedens.

Es könnte auch sein, daß eines Tages die Politik Franklin D. Roose-velts ihre Auferstehung feiert: die Verständigung zwischen Washington und Moskau auf Kosten Europas.

Nur wenn Europa klug und stark ist, kann es diese Gefahr bannen.

Der Europamarkt ist nur ein Anfang. Es gilt, ihn zu stärken und auszubreiten. Es gilt vor allem, ihn politisch zu untermauern, auf daß er nicht an politischen Gegensätzen auseinanderbreche.

Verändert hat sich in diesen fünfzig Jahren auch die Stellung der Paneuropa-Bewegung zum Nationalismus.

Damals war er, neben dem Bolschewismus, ihr Todfeind. In der Person Adolf Hitlers, der es versucht hat, durch seinen Rassenglauben den Nationalismus biologisch zu untermauern, hat er seinen stärksten Vertreter gefunden. Zwischen Paneuropa und der Hitler-Bewegung konnte es deshalb kernen Kompromiß geben. Eine der beiden Ideen mußte schließlich scheitern.

Inzwischen hat sich im nationalistischen Lager eine tiefe Wandlung und Spaltung vollzogen; zwischen dem Gros der vernünftigen Nationalisten und der kleinen Minderheit der Fanatiker.

Das Gros der Nationalisten hat schließlich begriffen, daß alle Kriege zwischen Europäern Bruderkriege sind, die nicht den Interessen der eigenen Nation dienen, sondern zu ihrem Untergang führen. Daß eine wohlverstandene nationale Interessenpolitik nur im europäischen Rahmen möglich ist.

Gleichzeitig hat die Paneuropa-Bewegung erkannt, daß die Zahl und Kraft der Europa-Patrioten viel zu gering ist, um ohne Bundesgenossen die Einigung Europas verwirklichen zu .können. Sie hat zunächst Bundesgenossen gefunden in den europäischen Sozialdemokraten und in den christlichen Parteien, deren Weltanschauung in übernationalen Idealen gipfelt und die beide vom

Kommunismus lebensgefährlich bedroht sind.

Aber auch mit Hilfe dieser mächtigen Bundesgenossen konnte sich Paneuropa nicht gegen die doppelte Front des europäischen Nationalismus und Kommunismus durchsetzen. Dies um so weniger, als auch die sozialdemokratischen und christlichen Parteien Europas von nationalen Leidenschaften nicht frei sind.

So kam es nach dem Sturz Hitlers und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu einem Bündnis zwischen den aufgeklärten Nationalisten und den Europäern — gegen die kommunistische Gefahr, die beide tödlich bedrohte.

Die Nationalisten, die noch zur Zeit Briands diesem in den Rücken gefallen waren, gaben ihren Kampf gegen die Paneuropaidee auf.

Auf der anderen Seite war es der Paneuropa-Bewegung nur willkommen, die vernünftigen Nationalisten Europas aus Gegnern in Verbündete verwandelt zu sehen.

Dieses Bündnis gibt heute die Möglichkeit zu einer baldigen Verwirklichung paneuropäischer Ideale, da nur dieses Zusammenwirken von einer großen Mehrheit der europäischen Wähler getragen wird und daher politisch aktionsfähig ist.

Diese Wandlung findet ihren praktischen Ausdruck in den freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen der Fünften Republik und der Paneuropa-Union herrschen; auf ihnen ruht die Hoffnung auf eine baldige Ergänzung des Europamarktes durch eine politische Union.

Die Paneuropa-Bewegung war von Anfang an eine Friedensbewegung; realistischer Pazifismus.

Ihr unmittelbares Ziel, das leider unerfüllt blieb, war die Verhinderung des zweiten Weltkrieges.

Nach dem Fehlschlagen der Briand-Initiative suchte sie den bedrohten Weltfrieden zu retten durch ein starkes Defensivbündnis gegen Hitlers Imperialismus. Während des Krieges war die Niederwerfung dieses Friedensfeindes unser unmittelbares Ziel; nach dem zweiten Weltkrieg war es die Versöhnung Deutschlands und die Errichtung eines europäisch-amerikanischen Verteidigungssystems gegen den Sowjet-Imperialismus.

Diesem Friedensziel wollen wir, allen Wandlungen zum Trotz, treu bleiben; im Gegensatz zu jenen pazifistischen Bewegungen, deren Blindheit gegenüber dem Machtfaktor die Kriegsgefahr eher steigert als mindert.

Mehr denn je bedarf die Welt einer realistischen Friedenspolitik. Dies um so mehr, als seit dem Beginn der Paneuropa-Bewegung die Erfindung der Atombombe einen völligen Umsturz der Kriegstechnik zur Folge hatte.

Nach einem dritten Weltkrieg wären die Trümmer eines vereinten Europa von den Trümmern eines zersplitterten Europa nicht zu unterscheiden. Auf jeden Fall bedeutet ein solcher Atomkrieg nicht nur den Untergang Paneuropas, sondern Europas und seiner dreitausendjährigen Kultur.

Daher sollten es alle Paneuropäer unterlassen, mutwillig zum Krieg gegen die Sowjets zu hetzen, ebensowenig aber durch die Schwäche und Uneinigkeit des Westens Rußland zum Einmarsch nach Europa einladen.

*

Wie unsere Bewegung vor fünfzig Jahren, zur Zeit der Ruhrbesetzung, die deutsch-französische Versöhnung gefordert hat, um den zweiten Weltkrieg zu vermeiden, so sollte sie heute zur Versöhnung zwischen Ost und West mahnen, um den dritten und letzten Weltkrieg zu verhindern.

Es scheint heute weniger schwer, Amerika mit Rußland zu versöhnen, als es damals schien, eine Brücke der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu schlagen.

Statt eines Schlachtfeldes zwischen Amerika und Rußland sollte Europa zur Brücke werden, die diese beiden jungen Weltmächte miteinander versöhnt und verbindet.

Denn Europa sollte nie vergessen, daß es in der Neuzeit die engen Grenzen gesprengt hat, die es während des Mittelalters umfaßten.

Zwei große Wanderungen haben inzwischen Europas Grenzen bis zum Pazifik erweitert, im Westen wie im

Osten; über Amerika und Sibirien.

Ein Chinese bleibt Chinese, auch wenn schon seine Großeltern sich in Singapur niedergelassen haben. So bleibt ein Europäer auch dann Europäer, wenn seine Vorfahren nach San Franzisko ausgewandert sind.

Vor unseren Augen eröffnet sich die gewaltige Vision eines größeren Europa, das von der Beringstraße zur Beringstraße reicht. Ein grenzenloses Land der Europäer — auch wenn viele unter ihnen sich ihres Ursprunges nicht mehr bewußt sind; Sibirier, die sich für Asiaten halten, und Kanadier, die glauben, Amerikaner zu sein. Dennoch sind sie alle Kinder einer gemeinsamen Mutter: des alten Europa.

Diese große und weitgespannte Familie der Europäer ist heute in zwei feindliche Lager gespalten, deren eines unter amerikanischer Führung steht und NATO heißt, während das andere unter russischer Führung im Warschauer-Pakt-System zusammengeschlossen ist.

Die Zeit ist reif, Delegierte dieser beiden feindlichen Lager von Europäern um einen Friedenstisch zu vereinigen, damit wenigstens ein Waffenstillstand zwischen ihnen besiegelt werden kann.

Wir Europäer der Mitte dürfen diese Initiative nicht tatenlos Moskau und Washington überlassen, bis sie sich eines Tages auf unsere Kosten verständigen, sondern wir sollten selbst den Weg weisen in eine hellere und friedlichere Zukunft der Menschheit.

Die Vision eines größeren Europa, eines wahren Paneuropa — von Wladiwostok bis San Franzisko — ist das Vermächtnis der alten Paneuropa-Bewegung an die junge Generation. Die Vision eines erdumspannenden Reiches der Europäer, getragen von zwei starken Flügeln, deren westlicher Amerika heißt und deren östlicher Rußland.

Dieses neue und größere Europa soll nicht die Eroberungsträume unserer Vorfahren weiterspinnen, sondern im Geiste einer neuen Brüderlichkeit, jenseits von Nation, Rasse, Partei und Weltanschauung, den Kampf gegen den drohenden Atomkrieg — und Atomtod — entschlossen aufzunehmen.

Denn dieser Atomtod bedroht weniger die alte als die junge Generation. Auch das vereinte Europa ist nur eine kleine Provinz der großen Welt. Sie kann keinen Frieden finden, solange rings um sie kalte und heiße Kriege toben.

Das höchste Ziel der Paneuropa-Bewegung ist darum der Friede: um jeden Preis, nur nicht um den der Freiheit.

Dieses große Ziel ist nur erreichbar durch neue, schöpferische und konstruktive Ideen. Diese Ideen werden aber dann fruchtbar sein, wenn sie getragen sind von Opferwillen, Idealismus und Tapferkeit. Im Geiste des Urwortes, das dem großen Europäer Perikles zugeschrieben wird:

„Allen Glückes Quelle ist die Freiheit — der Freiheit Quelle aber ist der Mut.“

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