7008808-1987_51_29.jpg
Digital In Arbeit

Bild auf Reisen

Werbung
Werbung
Werbung

Unlängst besuchte ich einen Freund. Wir kennen uns seit Jahrzehnten, hatten uns ein paar Jahre nicht gesehen. Er gehört zu jenen Freunden, bei dem jeder Abschied schmerzlich und jedes Wiedersehen ein Fest ist. Es war Ende November. Der erste Schnee war gefallen, der Himmel hing tief.

Die Haustür ist bei meinem Freund nie verschlossen. Ich kam unbemerkt herein. Er kniete am Boden, umgeben von Packpapier und Schnur, verpackte ein Bild. Er sah mich, richtete sich auf, freute sich. Seine Frau kam herein, wir umarmten uns alle drei.

„Schön, daß du dich wieder mal anschauen läßt.“

„Was hast du da?“ fragte ich, „kann ich das sehen?“

„Aber natürlich.“ Er wickelte das Bild wieder aus dem Tuch, in das er es eingeschlagen hatte, und stellte es auf einen Sessel.

Ein Weihnachtsbild, genau genommen drei Bilder in einem, was durch die gemalten hölzernen Balken, die das Bild durchziehen und in drei Flächen aufteilen, deutlich angezeigt wird.

Zuoberst der himmlische Bereich. Vier Engel in farbschönen Gewändern schweben mit ausgebreiteten Flügeln im Stall. Auch die Arme haben sie ausgebreitet, was noch mehr Verwunderung als Bewunderung ausdrückt, als wollten sie sagen: „Schaut euch dos an!“

In der Mitte liegt das Kind unter dem goldenen Licht des Sterns. Maria und Josef sehen sehr froh aus. Ochs und Esel stehen dabei, wie es sich gehört, und die Hirten.

Auf der untersten Ebene kommen die Heiligen Drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar, mit Elefant, Kamel und hoch zu Roß. Unter dem mittleren Holzbalken las ich den Namen der Malerin: Doris Pacher.

„Na?“ fragte mein Freund.

Ich nickte ihm zu. Wir waren uns einig.

„Wie lange hast du es schon?“ Denn ich hatte das Bild nie bei ihm gesehen.

„Seit ein paar Jahren“, sagte er, „dies Jahr geht's wieder von vorn los.“

„Was?“

„Die Reise -.“ Er sah auf. „Es ist nämlich ein besonderes Bild, ein Wanderbild.“

Ich verstand kein Wort.

„Setz dich“, sagte er. Seine Frau brachte uns einen Kaffee. Und mein Freund erzählte: „Wir haben das Bild gekauft, wie man eben ein Bild kauft, weil es uns so gut gefiel in seiner Einfachheit, in der klar gegliederten Konstruktion, den schönen Farben. Wenn man's länger anschaut, wird man fast wieder ein Kind. Ein Kind, das sich auf Weihnachten freut. Das Bild hing schon ein Jahr bei uns, da hatte meine Frau eine tolle Idee. Nämlich, daß das ein Wanderbild werden sollte.

Du weißt doch, wir haben drei Kinder, alle erwachsen, alle ver-heiratetv selbst schon wieder Eltern vieler Kinder. Ja, und nachdem wir uns ein Jahr an dem Bild gefreut hatten, packten wir es ein und reisten am Vorabend des ersten Advents zu Michael, unserem Ältesten. Der staunte nicht schlecht und freute sich sehr. Auch dann noch, als %r von der .Auflage' hörte, mit der diese Leihgabe verbunden war: nach Ablauf eines Jahres mußte er am Vorabend des ersten Advents das Bild zu seinem Bruder Matthias bringen. Der durfte es auch ein Jahr behalten, am Vorabend des ersten Advents mußte er es aber seiner Schwester Johanna weitergeben. Und sie mußte es am Vorabend des ersten Advents wieder zu uns bringen. Damit war die Wanderschaft der Heiligen Familie beendet, aber nur, um wieder von vorn zu beginnen. Morgen gehen wir wieder auf die Reise und freuen uns schon.“

Ich sah die Hausfrau an.

„Eine gute Idee. Steckt da nicht noch mehr als Reiselust und Wiedersehensfreude dahinter?“

Sie lachte. „Stimmt. Sie kennen mich gut. Eins ist wohl einleuchtend: ein Bild, das man nicht immer hat, eins, von dem man sich nach einem Jahr wieder trennen muß, sieht man ganz anders an als eins, das immer an der Wand hängt. Wenn man sich dann von ihm trennen muß, kann der Kummer nicht groß sein, denn erstens bleibt's in der Familie, und zweitens kriegt man's ja nach ein paar

Jahren wieder. Ich hab aber auch noch ein bissei spekuliert. Schau'n Sie, die Kinder sehen sich selten. Sie sagen oft, das muß jetzt aber anders werden, aber es wird nicht anders, weil keiner sich Zeit nimmt und weil sie weit auseinander wohnen. Einmal im Jahr haben sie jetzt plötzlich Zeit. Und bis jetzt hat es noch jedem Freude gemacht, mit dem Bild auf die Reise zu gehen.“

„Und warum gerade am Vorabend des ersten Advents?“ fragte ich.

„Wegen der Vorfreude“, sagte sie, „übrigens hab ich noch ein bissei weiter spekuliert. Eines Tages, wenn wir nicht mehr da sein werden...“

Mein Freund räusperte sich, lachte und sagte:

„So ungefähr in Ewig-und-drei Tagen...“

„Ja“, sagte sie vergnügt, „dann wird die Heilige Familie im Advent immer noch auf Wanderschaft gehen. Und wenn's den Kindern unserer Kinder gefällt, dann wird's vielleicht so weitergehen, daß ein Brauch daraus wird. Bräuche soll man nicht nur übernehmen, man soll auch neue erfinden.“

Sie goß uns frischen Kaffee ein, und wir saßen einfach da und tranken Kaffee und sahen auf das Bild und hatten eine gute Stunde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung