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Bildnis in Worten

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Uber Marc Chagall sagte einmal der große Picasso zu seiner Frau Franęoise Gilot: „Ich bin nicht gerade versessen auf seine Hähne und Esel und fliegenden Geiger und die übrige Folklore, aber seine Bilder sind wirklich gemalt, nicht nur einfach zusammengeschmiert.“ Und Theodor Heuss nannte in einem seiner Tagebuchbriefe Chagall „einen wunderbaren Märchenerzähler“, den er dem „So-viel-Könnsr Picasso“ vorzieht…

Diese ,.Folklore“, diese versunkene Welt, die Stadt Witebsk, wo Chagall geboren wurde und bis zu seiner Emigration lebte, schildert Bella Chagall, die hier mit 14 Jahren ihren zukünftigen Mann kennenlemte und die 1944 in New York gestorben ist. Sie sah ihn zum erstenmal im Haus ihrer Freundin Thea, der Tochter des Arztes Dr. Brachmann. Chagall war aus Paris gekommen, er war Maler und etwas Besonderes in Witebsk, wo jeder jeden kannte: die Haare fielen ihm über Brauen und Augen, „sie sind so blau, als kämen sie direkt vom Himmel. Es sind andere Augen, als die von anderen Menschen, lang wie Mandelkerne“. 1915 hat Bella Chagall geheiratet, 1922 gingen sie nach Paris, 1935 begann Bella zu schreiben. Ursprünglich wollte sie Schauspielerin werden…

Sie schrieb, wie sie lebte, sagt Chagall im Nachwort zu diesen Aufzeichnungen, die er liebevoll mit 28 Zeichnungen geschmückt hat, die fast alle 1945, also unmittelbar nach Bellas Tod, entstanden sind, und ihr Stil ist der einer jüdischen Braut in der jüdischen Literatur. Es sind sanfte, zarte, traumhafte Farben und weiche Striche, mit denen sie die Welt ihrer Kindheit und Jugend schildert. Da ist der Vater, der Juwelenhändler, die ständig besorgte Mutter, die Brüder, die Angestellten, mit denen man seine liebe Not hat: Avremel, der Lehrling, Rifka, die Kassderin, Her- schel, der Buchhalter…

Es wird viel und gut gegessen, streng nach dem Gesetz natürlich, es riecht nach Zimt und Mohnsamen in Butter, nach Käse und gebratenen Apfelschnitten. Ständig kocht der Samowar, bei jeder Gelegenheit wird ein Glas Tee getrunken, und abends spät geht man noch zu Budrewitschs Ausschank im Bahnhof ein Gläschen Selterswasser trinken. Die Kinder naschen von den „Teigelachs“, den süßen, kleinen Kuchen, die Mädchen sind brav und zart, die Buben wild, und der Rabbi in der Schule ermahnt sie: „Was soll aus euch werden? Ihr wollt immer nur spielen! Ihr seid gar nicht wie richtige jüdische Kinder!“

Und immer wieder der große Fluß, die Dwina, und die Brücke darüber. Dort trifft man sich zum Spazierengehen und im Winter zum Eisläufen auf dem Snjegurotschki. Es gibt auch Reisen, zur Tante Rachel, die mager und immer traurig ist, aber der Onkel Chaim ist immer tätig und fröhlich. Und Reisen mit der Mutter alljährlich nach Marienbad…

Chagall hat seine Frau, die 35 Jahre lang sein Leben teilte und ihn auch als Künstler beeinflußt hat, oft ins

Bild gebracht und ihre Erscheinung in dem „Porträt Bellas mit schwarzen Handschuhen“ für immer festgehalten. Sie hingegen hat uns in Worten ein unvergeßliches Bild des jungen Malers und seiner und ihrer Umwelt gezeichnet.

ERSTE BEGEGNUNG. Von Bella Chagall. Mit Zeichnungen von Marc Chagall. Rowohlt-Verlag, 196 Seiten. DM 22.—.

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