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Bildung durch Irrtum

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Aus vielen Gesprächen mit russischen Einwanderern, besonders den heute 40- bis 50jährigen, stellt sich heraus, daß eine der ganz wenigen Quellen ihres Wissens über das Judentum, die Bücher Lion Feuchtwangers, besonders „Der Jüdische Krieg”, „Die Söhne” und „Jud Süss”, aber auch andere vom gleichen Verfasser waren. Sie hauchten der jüdischen Jugend in der Sowjetunion den Stolz auf ihr Volk, aber vor allem auch ein minimales geschichtliches Wissen ein, das ohne die Bücher Feuchtwangers, die in russischer Sprache Massenauflagen erlebten, nie für die Juden erreichbar gewesen wäre.

Dabei liegt wohl die größte Ironie im Leben Feuchtwangers, als auch von Seiten der sowjetischen Zensurbehörden, in der Geschichte, wie es dazu kam. Als nach dem Mord an Kirow 1934 die politischen Schauprozesse gegen alte und verdiente Parteimitglieder anzulaufen begannen, als Männer wie Zinovjew und Kamenew, Bucharin und Radek und viele andere bekannte und wichtige Zentralkomiteemitglieder sich als „Trotzkisten” und Abweichler, als Verschwörerund Mörder bekannten, wobei die meisten zum Tode verurteilt wurden, herrschten in den intellektuellen Kreisen der ganzen Welt, Aufregung, Unglauben und Unbehagen.

Einerseits schienen die freiwillig gegebenen, fließend gemachten Geständnisse schier unfaßbar, anderseits waren es damals die Jahre der Volksfront, die einen Zusammenschluß von Kommunisten und Sozialisten propa-gandierte, um so besser gegen Hitler und später Franco in Spanien gemeinsam antreten zu können. In dieser Situation lud Stalin eine Anzahl französischer und exildeutscher Persönlichkeiten in die UdSSR ein, damit sie sich von den „wahren Verhältnissen” ein Bild machten. Sie wurden nicht nur freigiebig bewirtet, einige konnten im Prozeßsaal einer Gerichtssitzung verfolgen, man zeigte ihnen die letzten Errungenschaften wie den Bau der Moskauer Untergrundbahn, die Stachanow-Arbeiter, Musterkolchosen, man wies sie auf die „allerliberal-ste” neue Verfassung hin, auf die Erfolge des Fünfjahresplans und ähnliches. Es ist anzunehmen, daß man auch einigen der berühmten Schriftsteller, die ja ohnehin alle Antifaschisten waren, die massive Herausgabe ihrer Bücher auf dem riesigen Konsummarkt der Sowjetunion versprach, was sicher schwer wog, denn viele konnten nur mit bescheidenen Auflagen in Exil-Verlagen in Amsterdam, der Schweiz oder Schweden rechnen.

Ein erfolgreicher Fehler

Das Rußlandbuch Feuchtwangers, das 1937 erschien, war in der Tat sensationell in dem Sinne, daß ein hervorragender, nichtkommunistischer Schriftsteller öffentlich die Schauprozesse verteidigte. Sofort nach dem Erscheinen begann eine Anti-Feuchtwanger-Kampagne. Unter anderen war es der nicht minder berühmte Andre Gide, der auf die Propaganda nicht hereingefallen war, ebenfalls ein Rußland-Buch über seine Eindrücke schrieb und mit Feucht-wanger polemisierte.

Jahre später, im amerikanischen Exil, hat Lion Feuchtwanger nicht nur zugegeben, einen großen Fehler mit seinem Rußland-Buch gemacht zu haben, sondern er sah darin seinen größten intellektuellen Irrtum.

Aber inzwischen lagen bereits Hunderttausende Exemplare seiner Bücher auf russisch auf und es gab Zehnwenn nicht Hunderttausende jüdische Leser seiner Bücher in Sowjetrußland, denen sie zur fast einzigen erlaubten Quelle ihres jüdischen Bewußtseins wurden.

So ist die Saat, die irrtümlich gesät wurde, doch zum Guten aufgegangen. Sie war, unter den besonderen Bedingungen der Zeit und des Ortes, eine Art „Sesam, öffne dich” für die jüdische Jugend der Sowjetunion geworden.

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