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Billiges Vorurteil

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Vor einiger Zeit deponierte der heiter des Linzer Wagner-Jauregg-Krankenhauses, die uralten „Ressentiments gegenüber psychisch Kranken“ seien noch immer nicht abgebaut und auch nicht deren „Aversion gegenüber und die Angst vor dem Nervenarzt“.

Zu den Ressentimentsträgern gehören natürlich nicht nur die Verwandten, sondern auch behördliche und politische Funktionäre. In Oberösterreich ist außerhalb von Linz, Steyr und Wels kaum ein diesbezüglicher Facharzt aufzutreiben, im Burgenland soll es überhaupt nur einen einzigen geben, und jedenfalls findet sich dort keine Möglichkeit einer stationären Unterbringung für Nervenkranke. Sie müssen nach Niederösterreich transferiert werden. Die praktische Folge: Erschwerte Besuchsmöglichkeit, noch ärgere Isolierung für einen seelisch sowieso Gestörten.

Ist die so gern „verdrängte“ Existenz psychiatrischer Patienten eine Quantite negligeable? Im Gegenteil. Eine breit angestellte Erhebung über „Daten zur stationären Versorgung der österreichischen Bevölkerung“ ergab, daß von den 25 Millionen Pflegetagen, welche die Frequenz der Spitaler Österreichs 1971 ausmachten, fast fünf Millionen auf psychiatrische und neurologische Abteilungen entfielen. Sie liegen also mit 20 Prozent des Gesamtbelages an der Spitze, was einen Milliardenaufwand bedeutet!

Diese enorme Belastung kommt durch die zahlenmäßig beträchtliche Langzeithospitalisierung psychiatrischer Patienten zustande, die sich häufig über Jahre oder gar Jahrzehnte erstreckt. Aber auch die 50.000 Zugänge 1971 sind keine Kleinigkeit, wenn man die Dunkelziffer bedenkt. Denn wegen besagter Scheu sowie aus Mangel an einem Facharzt da und dort konnte die Statistik nur die „Spitze eines Eisberges“ erfassen. Auch die ambulant Behandelten blieben unberüdcsicli-tigt. Für diese Spitalspatienten stehen in Österreich 288 Planstellen für Ärzte zur Verfügung. Da sie aber nur teilweise besetzt und durch Urlaube, Krankenstände oder andere Abwesenheitsgründe überdies reduziert sind, stehen in Wirklichkeit nur jeweils 165 im Dienst.

Ob das ein gesunder Zustand ist? Man muß ihn eher als Symptom einer dominierenden Geisteshaltung ansehen, die vom Geisteskranken und seiner medizinischen Versorgung so wenig als möglich wissen will. Der gar nicht elfenbeinerne Narrenturm -ist in unserer Vorstellungswelt noch nicht abgebaut. Man spricht ^einfach nicht davon, daß zwei Drittel psychiatrischer Spitalspatienten sich mehr als ein Jahr in stationärer Behandlung befinden, 30 Prozent sogar schon mehr als zehn Jahre, und daß das zu ändern und zu bessern wäre, wie auf einigen Gebieten Hans Hoff und seine energischen Bemühungen gezeigt haben.

Die psychiatrischen Anstalten sind viel zu groß, dem Ausbau des ambulanten und teilstationären Sektors wird zu wenig Beachtung geschenkt, psycho-, pharmako- und milieutherapeutische Methoden zur Besserung psychischer Störungen werden zwar mehr und mehr, aber noch immer zu wenig praktiziert, wiewohl es klar sein müßte, daß es um so schwieriger wird, so einen Kranken zu rehabilitieren, je länger er hospitalisiert war: Er ist schließlich den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen. Aber man opfert lieber Milliardenbeträge an Internierungs-kosten als ein billiges Vorurteil. Nicht zu reden von den eigentlichen Opfern, den erkrankten Menschen, denen geholfen werden könnte.

Man befürchtet einen künftigen Ärzteüberfluß, ängstigt sich aber nicht wegen des akuten Mangels an Nervenärzten. Österreich hat neben Freud und Adler mit Julius Wagner-Jauregg den einzigen Psychiater hervorgebracht, der je mit dem medizinischen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Der Österreicher jedoch zeichnet sich bis heute dadurch aus, daß er mit deren Nachfolgern absolut nichts zu tun haben will.

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