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Bin ich noch in meinem Haus?

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Es geschah am 13. Februar 1945, das Inferno von Dresden. Das Drama hatte an der Schwelle des Todes den größten deutschen Dramatiker seiner Zeit, Gerhart Hauptmann, eingeholt. Grauenhafter als in der Phantasie, vorstellbar legten'Bomben sein „Elb-Florenz“ — Dresden — in Schutt und Asche. An einen Baum gelehnt, vor dem Sanatorium in Ober-Loschwitz, sah er in das Flammenmeer hinunter. Tränen liefen über das zerfurchte Antlitz des Zweiundachtzigjährigen, und seine Lippen murmelten: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.“ Mit diesen Worten begann Hauptmanns Totenklage auf Dresden, die kurz vor Kriegsende über den deutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Wer mochte noch auf einen Dichter hören, als der „blutigste Phraseur der Weltgeschichte“ — so wurde Hitler von Hauptmann bezeichnet — den totalen Krieg endlich verlor?

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Es geschah am 13. Februar 1945, das Inferno von Dresden. Das Drama hatte an der Schwelle des Todes den größten deutschen Dramatiker seiner Zeit, Gerhart Hauptmann, eingeholt. Grauenhafter als in der Phantasie, vorstellbar legten'Bomben sein „Elb-Florenz“ — Dresden — in Schutt und Asche. An einen Baum gelehnt, vor dem Sanatorium in Ober-Loschwitz, sah er in das Flammenmeer hinunter. Tränen liefen über das zerfurchte Antlitz des Zweiundachtzigjährigen, und seine Lippen murmelten: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.“ Mit diesen Worten begann Hauptmanns Totenklage auf Dresden, die kurz vor Kriegsende über den deutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Wer mochte noch auf einen Dichter hören, als der „blutigste Phraseur der Weltgeschichte“ — so wurde Hitler von Hauptmann bezeichnet — den totalen Krieg endlich verlor?

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Gerhart Hauptmann war vom Tode gezeichnet, als er alles daran setzte, in sein Haus „Wiesenstein“ bei Agnetendorf in Schlesien zurückzukehren. Das einstmals schöne Goethe-Antlitz war zu einem Vogelgesicht versteinert. Ischias hatte ihn gekrümmt. Auf einer Bahre liegend, in ungeheizten Zügen, immer wieder vom Kriegsgeschehen unterbrochen, setzte er wie ein Wunder seine Heimreise durch. Die Deutschen in Schlesien atmeten auf, als sie ihren Dichter wieder unter sich wußten. Dabei überrollten russische Tanks Schlesien. Als die Hauptstadt Breslau fiel, war das Schicksal dieser ostdeutschen Provinz besiegelt.

Warum war Gerhart Hauptmann, der Berühmte, der Humane, nicht emigriert, als Hitler die Macht übernahm? Weshalb schaute er zu, als ein unsinniger Krieg vom Zaun gebrochen wurde, er, der Deutschlands führenden Männern der Weimarer Republik, wie Ebert und Rathenau, nahegestanden? Die Emigranten klagten ihn bitter an, am schlimmsten sein einstmaliger Freund und Kritiker, Alfred Kerr, der schrieb: „Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln, sein Bild begraben in Staub.“ Dazu äußerte sich Hauptmann gegenüber seinem Monogra-phen Kurt Lothar Tank: „Kerr hat Deutschland geliebt, das weiß ich genau; er liebt es noch heute. Auch ich liebe Deutschland. Alfred Kerr mußte seine Heimat verlassen. Ich könnte es nicht tun, aber ich weiß, was ein solcher Schritt bedeutet. Ich kann seinen Schmerz, seinen Haß verstehen.“ Und zu Felix A. Voigt hatte Hauptmann gesagt: „Ich gehe nicht ins Ausland, da ich ein alter Mann bin und, an meine Heimat gebunden, nur hier schaffen kann.“

So ganz traf das nicht zu. Hauptmann pflegte sich an verschiedenen Wohnsitzen zu verschiedenen Jahreszeiten aufzuhalten, nicht nur auf seinem „Wiesenstein“ im Riesengebirge, sondern auch in Haus Seedorn auf der Insel Hiddensee und in Ra-pallo, Italien. Selbst in der Schweiz, die ihn, wie Thomas Mann und andere, mit offenen Armen empfangen hätte, hielt er sich öfter längere Zeit auf. Und jetzt, am Ende seines Lebens, 1945, hätte er sich mit seiner Frau Margarete und dem Pfleger ebensogut wie sein Sohn Benvenuto nach dem Westen durchschlagen können, statt in die Heimat zurückzukehren. Wiederum tat er es nicht. Gerhart Pohl, der Chronist seines letzten Jahres, fragte, „ob ihm in diesem Augenblick bewußt war, daß er mit dem Beschluß, sein eigenes Schicksal mit dem Schlesiens zu verknüpfen, einen geschichtlichen Auftrag übernahm?“ („Bin ich noch in meinem Haus“ von Gerhart Pohl). Das dürfte Hauptmann kaum bewußt gewesen sein, doch etwas anderes spürte er im Unterbewußtsein, einmal sprach er es sogar aus und warf die Frage auf, ob seine Stücke selbst dann noch bestehen, wenn jes Schlesien einmal nicht mehr gebe. — Eine Gesetzmäßigkeit in tieferen Schichten des kollektiven Unbewußten (C. G. Jung) hielt den Dichter an seiner Heimat fest. Gerhart Hauptmanns Schaffen war, wie dasjenige aller großen Künstler, kosmopolitisch.Aber seine Wurzeln hatte er in schle-sischer Erde.

Als Hauptmann, ein junger Neuerer, Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Erstling „Vor Sonnenaufgang“ einen Theaterskandal heraufbeschwor, hatte er seine Heimat bildhaft von der Schattenseite geschildert. Er galt als Naturalist, war indessen stets mehr, als diese Bezeichnung aussagt, wie auch in der Musik beispielsweise Giacomo Puccini viel mehr als Verist war. Hauptmanns bedeutendstes Drama, „Die Weber“, war die Tragödie armer schlesischer Heimarbeiter. Der urige „Fuhrmann Henschel“ spielte in Salzbrunn, Hauptmanns Geburtsort. Das Hotel in dem Schauspiel ist die „Preußische Krone“, die der Vater, Robert Hauptmann, führte. Der Großvater mütterlicherseits, Ferdinand Straehler, war Brunneninspektor des Kurortes. „Rose Bernd“, die gesunde schlesische Bauernmagd, die aus Verzweiflung ihr uneheliches Kind getötet, war Hauptmann leibhaftig vor Gericht begegnet, als er in seiner Eigenschaft als Geschworener über sie Urteil sprechen sollte.

Viele von Hauptmanns Dichtungen spielten in ganz anderen Landschaften: die Novelle „Der Ketzer von Soana“ und „Mignon“ im Tessin, „Griechischer Frühling“ und die Atriden-Tetralogie in Griechenland, „Winckelmann“ (erst nach dem Tod veröffentlicht) in Rom. Immer wieder führten seine Werke in die Heimat zurück, so der Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“, wie auch das entzückende Glashüt-tenmärchen „Und Pippa tanzt“. Die erste Pippa war Hauptmanns zeitweilige Geliebte Ida Orloff.

Das einsame Ende Gerhart Hauptmanns, erfassen nur diejenigen ganz, die wissen, wie groß sein Ruhm zu seinen Lebzeiten w,ar. ,Derm. obschon es kaum bedeutendere Dramatiker der Nachkriegszeit gab und eine Hauptmann-Renaissance sich abzuzeichnen beginnt, geriet der Dichter vorübergehend beinahe in Vergessenheit. Heute weiß nicht mehr „jedes Kind“, wer Hauptmann war. Daher sei an seine Weltgeltung erinnert. Hauptmann ist nicht nur bereits als Klassiker abgestempelt, ein mit Verstaubtheit assoziierbares Etikett, sondern er war vor 1933 der Vertreter Deutschlands in der Welt. Als er, Nobelpreisträger und Ehrendoktor der Universität Oxford, 1932 nach Amerika fuhr, um an vier Universitäten seine Rede Izum 100. Todestag Goethes zu halten, wurde er gefeiert und vom Präsidenten Hoo-ver empfangen. — Noch 1942 ehrte die Stadt Wien Gerhart Hauptmann zum 80. Geburtstag mit großen Theater- und Bankettveranstaltungen. Trotz Goebbels' Verbot, Hauptmann öffentlich zu ehren — er war dem Regime nicht geheuer —, gab es in Breslau eine Hauptmann-Festwoche. Andere deutsche Städte folgten dem Beispiel.

Auf dem ,;Wiesenstelh“, und “wo immer er sich aufhielt, scharte der gesellige Hauptmann einen beachtlichen Kreis von Freunden um sich. In seinem letzten Lebensjahr war es gefährlich geworden, Hauptmann zu besuchen. Es herrschte Ausgehverbot.

Nach den Russen, die sein Haus unter ihren Schutz stellten, kamen die Polen. Die Ausweisung aller Deutschen begann. Am 7. April 1946 besuchte der russische Oberst Soko-low, ein Kenner seiner Kunst, Hauptmann und erklärte ohne Umschweife: „Diesmal komme ich in amtlicher Mission. Ich überbringe Ihnen das letzte Angebot der sowjetischen Militäradministration. Die Deutschen im Kreise Hirschberg werden nunmehr restlos evakuiert. Die polnische Regierung besteht darauf. Auch 'Sie, verehrter Herr Doktor, können nicht länger bleiben, ohne sich in Gefahr zu bringen.“ Trostlos sprach Hauptmann: „Nun, dann fahren wir eben“, um wenig später bewegt seiner Frau zuzurufen: „Gretchen, darf ich mein Schlesien allein lassen?“ Er hätte nach Ost-Berlin ausreisen sollen.

Während das Hämmern und Pakken im Hause begann, beschloß der alte Mann, hier zu sterben. Durch zwei Lungenentzündungen stark geschwächt, sprach Gerhart Hauptmann am 3. Juni 1946 seine letzten Worte, kein Vermächtnis an sein Volk, kein Bekenntnis zur wahrhaft geliebten Lebensgefährtin, sondern die bange, alle Welt tief beschämende Frage: „Bin ich noch in meinem Haus?“ Bald darauf starb er. So paradox es klingt, Schlesien gibt es nicht mehr, das Land ist heute polnisch, und dennoch bleibt Schlesien erhalten, unsterblich in der Sprache seines großen Dichters. Gerhart Hauptmann und Schlesien sind identisch geworden.

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