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Binnenmeere im Koma

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Sauerstofflöcher wurden erstmals im Jahre 1981 in der Nordsee erfaßt: Damals sank im Tiefenwasser der Deutschen Bucht die Sauerstoffkonzentration um 60 Prozent ab. Gleichzeitig wurden auch in anderen küstennahen Bereichen der Nord-und der Ostsee Fischsterben beobachtet, die auf Sauerstoffmangel zurückgingen. Ursache war eine außergewöhnlich starke „Algenblüte“.

Der Meeresforscher Sebastian Gerlach von der Universität Kiel führte die Algenvermehrung damals darauf zurück, daß das Nährstoffangebot in der Nordsee enorm gestiegen war: Durch die einfließenden Stickstoff- und Phosphorverbindungen werden die winzigen Pflanzen geradezu gemästet. Wenn die Algenmassen dann absterben, benötigen die an ihrem Abbau beteiligten Bakterien für ihre Zersetzungsarbeit gewaltige Mengen Sauerstoff. Die Folge: Die Fische ersticken...

Seit 1900 sind die Stickstoff-und Phosphor-Ladungen der in die Nordsee mündenden Flüsse um das 4,2f ache beziehungsweise um das 7,6f ache gestiegen. Wenn der Mensch sich nicht einmischt, steuern die Flüsse nur sieben bis 14 Prozent der Nährstoffe bei, die in die südliche Nordsee gelangen. 1980 dagegen war der Anteil der Flußfrachten auf 34 bis 36 Prozent angewachsen...

Die „zivilisatorisch“ bedingten Algenblüten, Sauerstofflöcher und Fischsterben wiederholten sich nach 1981 mehrmals. Etwa im Oktober 1986 im dänischen Katte-gatt, als große Teile des Fischbestandes verschwanden oder nur noch tot aus dem Meer geholt wurden. In einem Gebiet von 100 Quadratkilometern wurde jegliches höhere Leben ausgelöscht.

Was jetzt in der Nordsee zum „Tschernobyl des Meeres“ hochstilisiert wird, ist im Mittelmeer jedes Jahr zu beobachten. Insbesondere an der italienischen Adria kommt es seit den siebziger Jahren mit schöner Regelmäßigkeit zu einem abnormen Algenwachstum.

Die meisten Kommunen am Po verfügen über keinerlei Kläranlagen, sodaß der gewaltige Strom Stickstoff- und Phosphorfrachten in die hoffnungslos verschmutzte Adria transportiert.

Unter diesen Bedingungen wuchert eine Rotalge, die das Adria-wasser tagelang dunkelrot einfärbt, und eine Lattichalge, die wie ein schwammiger, grüner Teppich den Wasserspiegel bedeckt und alles Leben darunter erstickt. Die Gondolieri in Venedig haben Schwierigkeiten, ihre Kähne durch die zähe Masse zu lavieren. Selbst Motorboote kommen nur mühsam voran.

Wissenschaftler und Umweltschützer weisen seit Jahren auf Fischsterben und Algenblüte in Nord- und Ostsee sowie im Mittelmeer hin — ohne viel Resonanz in den Medien. Sie wundern sich deshalb sehr, daß die diesjährige Nordseekatastrophe ein derartiges Presseecho findet.

Denn auch daß Algen Giftstoffe absondern können, ist seit langem bekannt. Vor allem Blaualgen produzieren Nervengifte („Neu-rotoxine“), die bei Fischen zur verstärkten Atmung, zu krampfartigen Bewegungen und schließlich zum Tod führen können. Die Algengifte können jedoch nicht nur Fische (und auf dem Umweg über vergiftete Fische oder Muscheln auch Menschen) schädigen, sondern auch andere Algen beeinflussen.

Mit den Algentoxinen hat sich von 1970 bis 1980 ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft beschäftigt. Im Abschlußbericht wird festgestellt: „Es erscheint möglich, daß die ganze Zusammensetzung von Ökosystemen durch solche Wirkstoffe beeinflußt wird.“

Im Klartext: Wenn der Mensch den „Giftalgen.“ durch einen überzogenen Nährstoffeintrag einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Algenarten verschafft, können die Wirkstoffe dieser Giftalgen das äußerst kompliziert vernetzte Ökosystem der Küstenmeere in ein Chaos stürzen. Die jetzigen „Ausfall-Erscheinungen“ in Nord- und Ostsee sind Anzeichen für eine derartige Entwicklung.

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